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Friedrich Winkler.
der Handschrift und das Resultat war, daß tatsächlich die beiden Hauptmeister der Wiener Bibel
am Lütticher Gebetbuch tätig waren.
Der Kalender des Gebetbuches weist durch seine Heiligennamen, wie Servais, Bonifaz,
Odulphe, Lievin, Lambert, Victor, Willibrord auf die Diözese Utrecht.1 Ganzseitige Miniaturen
— sie müssen wir vor allem ins Auge fassen — finden sich nicht häufig, auf fol. i3 eine Madonna
mit Kind, auf fol. 3g' das jüngste Gericht, auf fol. 54', 56', 58', 60', 62', 64', 66' Szenen aus der
Passion und auf fol. 68' Gottvater, der die Seelen der Gerechten aufnimmt.
Fol. 39', das jüngste Gericht (Taf. XXII), ist das einzige Blatt, das der Meister A des ersten
Bandes der Wiener Bibel beisteuerte. Seine Urheberschaft wird durch einen Vergleich mit der
Miniatur des Moses auf dem Berge Nebo
in der Bibel vollkommen klar. Uberzeu-
gend wirkt zumal die Landschaftsbehand-
lung. Die schieferartige Spaltung des Fels-
gesteins, die Rasendecke, die gleichmäßig
glatt den Rücken jedes Felsblocks über-
zieht, die hinter diesen plötzlich sichtbar
werdende Landschaft, die mit erstaunlicher
Sicherheit in bezug auf die perspektivi-
schen Schwierigkeiten im Gegensatz zur
Vordergrundslandschaft gegeben ist, sind
Eigentümlichkeiten beider Bilder. Beide
Male treffen wir das von Büschen und
Bäumen umsäumte silberne Band des quer
durch die reiche Landschaft sich winden-
den Flusses. Die mit aller Kraft blasen-
den Engelchen des jüngsten Gerichts
Fig. 44. Wien, k. k. Hofbibliothek, Cod. 2771, Fol. 2o3. findet man ebenso pausbäckig auf den
Schöpfungsbildern wieder. Vermag man
bei dem jüngsten Gericht die Beweglichkeit und Lebhaftigkeit unseres Meisters nicht vollkommen
zu erkennen, so kommen diese Vorzüge bei der Gruppe unter dem Berge Nebo voll zur Geltung.
Man bedenke, daß es galt, millimeterhohe Köpfe mit Leben zu erfüllen. Hauptsächlich liegt aber
der Wert dieser Bilder — wie bei allen holländischen Miniaturen — in den reizvollen Farben-
zusammenstellungen2 und schon in jener Zeit im Farbenauftrag. In der Wiener und Lütticher
Handschrift gebraucht dieser Meister genau die gleichen Farben.
Die Rankenzeichnung bei dem jüngsten Gericht in Lüttich weicht von der der Wiener Bibel
ab. In dieser glaube ich die spezifisch holländische Rankenzeichnung finden zu dürfen. Der
flämische Randschmuck geht auf elegante, schwungvolle Zeichnung der Ranke, gleichmäßige Füllung
des Raumes aus, gebraucht meist wenige typische Farben (blau, gold, rot), ist immer in ein an-
genommenes oder vorgezeichnetes Rechteck eingespannt und arbeitet — besonders um die Mitte
des XV. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung der Wiener Bibel — deutlich den Gegensatz
zwischen der vielgelappten gotischen Ranke und den nach der Natur gezeichneten Blumenzweigen
heraus. Die holländische Ranke, wie sie in der Wiener Bibel am reinsten zu Tage tritt,3 ist
1 J. Brassinne, Catalogue des manuscrits legues ä la bibliofheque de l'universite de Liege par le baron A. Wittert.
Liege 1910, Nr. i3. — Ich bin nicht der Meinung, daß man aus den Heiligen des Kalenders allein im XV. Jahrhundert auf
den Kntstehungsort schließen darf. In unserem Falle freilich wird diese Angabe des Katalogs durchaus bestätigt durch den
Besteller und die Heiligenlitaneien.
2 Unser Meister liebt es, Ziegelrot und Graugrün zusammenzustimmen. Im jüngsten Gericht ist das Gewand der
Maria in tiefem Blau, das Kleid Christi eigentümlich karmin, beides zusammen mit dem Graugrün der Landschaft von ganz
eigenem Reiz.
3 Vgl. auch das kleine holländische Gebetbuch der Hofbibliothek (Nr. 2726).
Friedrich Winkler.
der Handschrift und das Resultat war, daß tatsächlich die beiden Hauptmeister der Wiener Bibel
am Lütticher Gebetbuch tätig waren.
Der Kalender des Gebetbuches weist durch seine Heiligennamen, wie Servais, Bonifaz,
Odulphe, Lievin, Lambert, Victor, Willibrord auf die Diözese Utrecht.1 Ganzseitige Miniaturen
— sie müssen wir vor allem ins Auge fassen — finden sich nicht häufig, auf fol. i3 eine Madonna
mit Kind, auf fol. 3g' das jüngste Gericht, auf fol. 54', 56', 58', 60', 62', 64', 66' Szenen aus der
Passion und auf fol. 68' Gottvater, der die Seelen der Gerechten aufnimmt.
Fol. 39', das jüngste Gericht (Taf. XXII), ist das einzige Blatt, das der Meister A des ersten
Bandes der Wiener Bibel beisteuerte. Seine Urheberschaft wird durch einen Vergleich mit der
Miniatur des Moses auf dem Berge Nebo
in der Bibel vollkommen klar. Uberzeu-
gend wirkt zumal die Landschaftsbehand-
lung. Die schieferartige Spaltung des Fels-
gesteins, die Rasendecke, die gleichmäßig
glatt den Rücken jedes Felsblocks über-
zieht, die hinter diesen plötzlich sichtbar
werdende Landschaft, die mit erstaunlicher
Sicherheit in bezug auf die perspektivi-
schen Schwierigkeiten im Gegensatz zur
Vordergrundslandschaft gegeben ist, sind
Eigentümlichkeiten beider Bilder. Beide
Male treffen wir das von Büschen und
Bäumen umsäumte silberne Band des quer
durch die reiche Landschaft sich winden-
den Flusses. Die mit aller Kraft blasen-
den Engelchen des jüngsten Gerichts
Fig. 44. Wien, k. k. Hofbibliothek, Cod. 2771, Fol. 2o3. findet man ebenso pausbäckig auf den
Schöpfungsbildern wieder. Vermag man
bei dem jüngsten Gericht die Beweglichkeit und Lebhaftigkeit unseres Meisters nicht vollkommen
zu erkennen, so kommen diese Vorzüge bei der Gruppe unter dem Berge Nebo voll zur Geltung.
Man bedenke, daß es galt, millimeterhohe Köpfe mit Leben zu erfüllen. Hauptsächlich liegt aber
der Wert dieser Bilder — wie bei allen holländischen Miniaturen — in den reizvollen Farben-
zusammenstellungen2 und schon in jener Zeit im Farbenauftrag. In der Wiener und Lütticher
Handschrift gebraucht dieser Meister genau die gleichen Farben.
Die Rankenzeichnung bei dem jüngsten Gericht in Lüttich weicht von der der Wiener Bibel
ab. In dieser glaube ich die spezifisch holländische Rankenzeichnung finden zu dürfen. Der
flämische Randschmuck geht auf elegante, schwungvolle Zeichnung der Ranke, gleichmäßige Füllung
des Raumes aus, gebraucht meist wenige typische Farben (blau, gold, rot), ist immer in ein an-
genommenes oder vorgezeichnetes Rechteck eingespannt und arbeitet — besonders um die Mitte
des XV. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung der Wiener Bibel — deutlich den Gegensatz
zwischen der vielgelappten gotischen Ranke und den nach der Natur gezeichneten Blumenzweigen
heraus. Die holländische Ranke, wie sie in der Wiener Bibel am reinsten zu Tage tritt,3 ist
1 J. Brassinne, Catalogue des manuscrits legues ä la bibliofheque de l'universite de Liege par le baron A. Wittert.
Liege 1910, Nr. i3. — Ich bin nicht der Meinung, daß man aus den Heiligen des Kalenders allein im XV. Jahrhundert auf
den Kntstehungsort schließen darf. In unserem Falle freilich wird diese Angabe des Katalogs durchaus bestätigt durch den
Besteller und die Heiligenlitaneien.
2 Unser Meister liebt es, Ziegelrot und Graugrün zusammenzustimmen. Im jüngsten Gericht ist das Gewand der
Maria in tiefem Blau, das Kleid Christi eigentümlich karmin, beides zusammen mit dem Graugrün der Landschaft von ganz
eigenem Reiz.
3 Vgl. auch das kleine holländische Gebetbuch der Hofbibliothek (Nr. 2726).