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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Berenson, Bernard: Eine Wiener Madonna und Antonellos Altarbild von S. Cassiano
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0055
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Kine Wiener Madonna und Antonellos Altarbild von S. Cassiano.

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Ich glaube, diesen bescheidenen Künstler recht gut zu kennen. Ich habe die Spuren der
ihm zugeschriebenen Werke in Sizilien und Kalabrien verfolgt und habe alles gesehen, was im
übrigen Europa und in Amerika unter seinem Namen geht oder was man wenigstens für Werke
von ihm hält. Ich zögere nicht, zu behaupten, daß keines von all diesen Zeichen jener meister-
haften Kunst zeigt, die sich in der Wiener Madonna offenbart. Glücklicherweise haben wir
Mittel in der Hand, den schlagendsten Vergleich anzustellen. Auf seinem Wege von Sizilien
nach Venedig malte Antonio für ein umbrisches Bergstädtchen ein Bild, das vor einigen Jahren
nach Spoleto gebracht und so allgemein zugänglich gemacht wurde. In einem Rahmen der Zeit
sehen wir die Madonna thronen, in der Lünette Gottvater zwischen Cherubim (Fig. 9). Das Bild
beweist uns nur, welch mittelmäßiger Künstler sein Schöpfer war; aber die Madonna ist sichtlich
von einem Manne gemalt, der unter dem äußerst lebhaften Eindruck unserer Madonna oder einer
andern der gleichen Komposition gestanden sein muß. Allerdings könnte der Unterschied
zwischen beiden durch die verschiedene Entstehungszeit erklärt werden. So wäre es begreiflich,
daß der breitere Thron und die freiere Behandlung des Faltenwurfes einer späteren und weniger
strengen Zeit desselben Künstlers entspräche; begreiflich auch, wenn auch weniger leicht, daß der
Schöpfer einer so absichtlich pyramidenförmigen und konischen Komposition, wie sie uns die
Wiener Madonna zeigt, seine eigensten Absichten vergessen haben könnte, um der heiligen Jung-
frau im Gegensatz zu ihrer idealen geometrischen Umgebung eine etwas schüchternere Körper-
haltung zu geben. Was ich aber nicht begreifen könnte, wäre, daß ein Meister, der sich einmal
zur künstlerischen Vollendung des einen Werkes erhoben hätte, zum andern herabgesunken sein
könnte mit seinen schweren Schatten, seiner Trockenheit, Steifheit und seiner ärmlichen, nüchter-
nen Wirkung.

An solch einen Niedergang kann ich nicht glauben; für mich ist es ausgemacht, daß der
Schöpfer des Bildes von Spoleto nicht der unserer Madonna gewesen sein kann. Ahnliche
Gründe verbieten mir die Annahme, daß dieser soweit gesunken wäre, eine Madonna zu malen
wie die im Besitze des Barons Corrado Arezzo in Ragusa Inferiore in Sizilien (Venturi, Storia
VII, 4, p. 83) oder die Madonna im Besitze des Mr. Grenville L. Winthrop in New-York (Beren-
son, Venetian Painting in America, Fig. 20), die beide besser sind als die in Spoleto, aber weit
minderwertiger als unsere; ich bin geneigt, sie als früheste Arbeiten des Antonio de Saliba anzu-
sehen. Wenn die «Madonna del Rosario» in Messina nicht von demselben sondern von einem
andern Maler herrührt, so ist dieses Werk doch ganz ebensoviel schlechter als unseres. Salvo
d'Antonio kann man unsere Madonna ebensowenig zutrauen wie Piero da Messina; denn der
erste ist in seinem einzigen bekannten Bilde, dem «Entschlafen der heil. Jungfrau» — ehemals in
der Kathedrale von Messina — gleichzeitig carpacciesk, umbrisch und ärmlich, während der
zweite noch unter dem Niveau seines Bruders Antonio de Saliba stand, dessen Schüler und Nach-
ahmer er gewesen zu sein scheint.

Es bleiben noch drei andere sizilische Gemälde, deren Schöpfer wir hier erwähnen könnten.
Eines davon ist das Bild in der Kathedrale von Syrakus (Fig. 10), das die thronende Madonna mit zwei
Trompeten blasenden Engeln darstellt (Venturi, Storia VII, 4, p. 82); es ist ein ziemlich anziehen-
des Bild, aus späterer Zeit, möchte ich glauben, als unseres, aber mit mehr gotischen Reminiszenzen;
die inneren Qualitäten seiner Zeichnung und Modellierung sind nichtsdestoweniger mindestens
ebenso geringe wie die des Antonio de Saliba. Die zwei anderen Bilder sind die Madonna in der
Sammlung Salting der National Gallerv und die weibliche Heilige in der Sammlung Walters in
Baltimore (Berenson, Venetian Painting in America, Fig. 18 und 19). Ihr Schöpfer war in der
Tat ein würdigerer Nachfolger des großen Antonello als irgendein anderer uns bekannter sizili-
scher Künstler; aber er hat nicht nur eine andere Art sondern war auch meines Erachtens un-
fähig, die Madonna in Wien zu malen.

Ich fürchte nicht, daß jemand, der mir mit sorgsamer Aufmerksamkeit bei der Prüfung der
genannten sizilianischen Künstler gefolgt ist, anderer Meinung sein und den Schluß ziehen wird,
 
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