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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0069
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Die Blütezeit der Biklwirkcrkunst zu Tournai und der Burgundische Hof.

57

Aber die Bedeutung der Arraser Ateliers, die nach den Quellennachrichten im XIV. Jahr-
hundert ihre höchste Blütezeit erlebten, schwindet mit dem Anfang des XV. Jahrhunderts immer
mehr, von dem Glanz eines neu aufleuchtenden Zentrums verdunkelt.

Zur Stützung dieser Annahme dienen folgende Tatsachen:

1. die mittelmäßige technische Qualität der besprochenen Arraser Arbeiten in der Kathedrale
von Tournai,

2. die Unmöglichkeit, außer diesen noch andere Werke auf Arras zu lokalisieren, und

3. der Umstand, daß um die Mitte des XIV. Jahrhunderts Herzog Philipp der Gute von Bur-
gund seine wertvollsten und berühmtesten Tapisserien — so die Darstellungen der «Histoire de la
Toison d'or» —nicht in Arras sondern, wie uns durch die erhaltenen Rechnungen überliefert ist,1
in den Werkstätten von Tournai anfertigen ließ.

* *

Bieten uns die genannten ältesten Erzeugnisse der frankoflämischen Teppichwirkerei wenigstens
sichere Hinweise auf ihren Entstehungsort, so stellt uns dagegen der Versuch, die wenigen erhaltenen
Stücke aus der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts zu lokalisieren, vor ein völlig ungelöstes Pro-
blem. Hier versagen primäre und sekundäre Quellen, Inschriften und Wappen, Rechnungen und
Inventare.

Wenn ich im Folgenden wage, mit Hilfe stilkritischer Vergleichung, durch Heranziehung
jüngerer lokalisierbarer Werke die Umrisse einer lokalen französischen Bildwirkerschule festzustellen,
so geschieht es mit dem Bewußtsein, auf diesem Gebiet zum ersten Male eine Methode anzuwen-
den, die von der reichen einschlägigen französischen Forschung bisher perhorresziert wurde. Immer-
hin erscheint sie mir gegebenenfalls als der einzige Weg, zu möglichen Ergebnissen vorzudringen.

Ein interessantes Tapisseriefragment (Fig. i), das den besprochenen Pariser und Arraser Ar-
beiten zeitlich unmittelbar anzugliedern wäre, das also zu den frühesten erhaltenen Werken der
frankoflämischen Teppichkunst überhaupt gehört, fand ich kürzlich in einer Wiener Privatsamm-
lung (Sammlung Weinberger).2 Das Stück, das bisher weder veröffentlicht erschien noch in der
Literatur eine Erwähnung fand, wurde vor einigen Jahren im Pariser Kunsthandel erworben. Es
ist, wenn auch restauriert, in Material und Farben gut erhalten, mißt 2 m 35 cm in der Höhe,
2 m 75 cm in der Breite3 und ist auf leinener Kette in bunter Wolle — ohne Verwendung von Gold
oder Seide — in reiner Hautelisse-Technik gewirkt.

Auf grünblauem Rasengrund, der von Blumen, Gräsern und Gesträuch bestanden ist und das
ganze Bildfeld erfüllt, erscheinen vier Gestalten, zwei Jünglinge und zwei Damen in höfischer
Modetracht. Jede sagt ihr Sprüchlein, das uns durch Schriftbänder verdolmetscht wird. Als gei-
stiger Mittelpunkt der Darstellung ist deutlich die eine der beiden Frauen charakterisiert, die auf
einer grünen Rasenbank sitzt und der sich die Blicke der drei anderen Figuren zuwenden. Sie
trägt ein blaues, hermelinverbrämtes Gewand mit schwarzgelben Unterärmeln und rotem Gürtel.
Ihr goldblondes Haar ist in breiter zweiteiliger Modefrisur aufgesteckt. Der rosenfarbene Hut ist
mit Margariten geschmückt, vielleicht ein Hinweis auf den Namen (Aiargarete) der Bestellerin, für
deren fürstliche Abkunft in diesem Falle der Hermelin Zeugnis ablegen würde. In der Hand hält
sie eine halbvollendete Arbeit, ein kranzähnliches Gebilde, eine Hutform, wie wir aus der Inschrift
erfahren. Zu ihrer Linken steckt in der Lehne der Bank ihr WTerkzeug, ein kleines Messer. Das
Spruchband sagt:

«Je sui onneur qui fai capiaus
pour mes enfans qui tant sont biaus.»

1 Le Comte de Laborde, Les ducs de Bourgogne, II. Partie, Tome I.

2 Für die Erlaubnis einer eingehenden Besichtigung und die Überlassung einer Photographie bin ich Herrn Emil
Weinberger zu besonderem Danke verpflichtet.

3 Die Maße sind mit dem angesetzten Rande berechnet, dessen Breite oben und unten 7 cm, rechts und links 5'/a cm beträgt.
 
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