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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0075
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Betty Kurth.

in der wenn auch noch völlig unwirklichen, so doch viel komplizierteren Zusammensetzung des
Landschaftsprospekts — der ungeachtet des ungewissen Gesamtzustandes der fragmentierten Ta-
pisserie hervorzuheben ist — zu einer wesentlich späteren Entwicklungsphase fortgeschritten. Ihre
Entstehung in den Jahren zwischen 1425—1450 bestätigen neben stilistischen Details vornehmlich
die dargestellten Kostümtypen. Neben Formen, die noch der Zeit des Wiener Fragments nahe-
stehen, wie die Hüte der Frauen
— ihre geringere Breite und grö-
ßere Höhe weist auch hier auf ein
späteres Entwicklungsstadium dieser
Tracht — erscheinen Moden, die
ihre Blütezeit erst gegen die Mitte
des Jahrhunderts erlebten, wie Ge-
wänder und Kopfbedeckungen meh-
rerer Jünglinge.1 Dieses Nebenein-
ander zeitlich voneinander entfernter
Trachten beweist, daß die Herstel-
lung der umfangreichen Werke eine
längereZeitspanne in Anspruch nahm.
Als frühestes Stück ist der Teppich
mit der Bärenjagd (Taf. V), als spä-
testes der mit der Rehjagd (Fig. 3)
zu betrachten. Es ist dies durch-
aus keine singuläre Erscheinung;
denn schon die Apokalypse von
Angers weist deutliche Merkmale
einer längeren Entstehungszeit auf.

Die angesetzten Zeitgrenzen
werden auch durch den stilisti-
schen und künstlerischen Befund
der Stücke bestätigt. Die Gesamt-
kompositionen der einzelnen Ta-
pisserien, die, wie die merklichen
Stilvariationen beweisen, von ver-
schiedenen Künstlern herrühren, be-
wegen sich auch hier noch — wie
beim Wiener Fragment ■— in den
Bahnen mittelalterlicher Tradition.
Nirgends ist der Versuch einer
strafferen Zusammenfassung der Sze-
nen zu einem geschlossenen Raum-
bild zu beobachten. Nur ein leb-
haft bewegtes Neben- und Übereinander, ein unklares Figurengedränge erschwert dem Beschauer
das Verständnis der dargestellten Vorgänge. Die Unzulänglichkeit der Raumvertiefungsmittel wird
durch den steil fast bis zum oberen Bildrand ansteigenden Rasengrund zu verbergen getrachtet.
Die Architekturen erscheinen wie stenographische Siegel wirklicher Gebäude neben den um ein
Vielfaches größeren Bewohnern. Eine Realität des Landschaftsbildes ist nirgends erreicht. Trotz-
dem sind Versuche einer neuen und eingehenden Naturbeobachtung zu erkennen. Sie äußert

1

Fig. 4. Kalenderbild.
Chantilly, Livrc d'Heures des Herzogs von Berry.

1 Einige Figuren tragen die nämlichen Kostüme wie das Arnolfini-Ehepaar auf dem Bilde des Jan van Eyck von 1434.
 
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