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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0077
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Betty Kurth.

dem Herstellungsort der hervorragenden Werke zu geben. Wohl berichten uns zeitgenössische
Quellen von der Vorliebe der Anjous und insbesondere König Renes für prunkvolle Tapisserien,
mit denen sie ihre Schlösser schmückten und durch deren Anschaffung sie viel zum Wohlstand der
französischen und flämischen Industrien beitrugen;1 allein unter den erhaltenen Rechnungen2 läßt
sich keine einzige mit unseren Stücken in Beziehung setzen. Sicher erscheint immerhin, wenn
wir die Größe und technische Vollendung der Teppiche in Betracht ziehen, daß sie
in einem der bedeutendsten Bildwirkzentren ihrer Zeit entstanden sein müssen, wo
allein ein ausgedehnter und systemisierter Werkstattbetrieb die Mittel und techni-
schen Möglichkeiten zur Herstellung so umfangreicher Werke bot.

Mit dieser Erwägung engt sich der Kreis unserer Nachforschungen ein. Bevor wir jedoch
der Lösung des Problems näher zu kommen versuchen, sei vorerst im folgenden eine kurze Auf-
zählung von Wirkereien angeschlossen, die der besprochenen Gruppe — abgesehen von individuellen
Verschiedenheiten der entwerfenden Künstler — in Stil und Technik so nahestehen, daß ich sie in
der nämlichen Werkstatt entstanden glaube:

Teppichfragment mit Auszug zur Falkenjagd. Minneapolis, Museum (Fig. 5).

Das Fragment (ca. 3 m 40 m hoch, 3 m 28 cm lang) gelangte als Geschenk des Herrn Charles
J. Martin in das amerikanische Museum.3 Ein Vergleich mit den Devonshire-Teppichen zeigt so
schlagende Übereinstimmungen, daß ich geneigt wäre, es als ein zu derselben Serie gehöriges
Bruchstück anzusprechen.

Teppich mit Damen und Jünglingen bei der Falkenzähmung. Passau, Museum
(Fig. 6).*

Dieses Stück ist ebenfalls zwischen 1425 —1450 entstanden. Es ist ein «dossier» oder «ban-
quier», wie es in den Inventaren bezeichnet wird (deutsch «Rücklaken»), dessen schmales Format
und dessen weniger sorgfältige technische Ausführung — es ist viel gröber gewirkt — auf eine
untergeordnete Verwendung schließen läßt. Man vergleiche die Typen, die Zeichnung der Gesichter,

1 A. Lecoy de la Marche, Le roi Rene, sa vie, son administration, ses travaux artistiques et litteraires, Paris 1875,
Tome II, p. 110.

2 G. Arnaud d'Agnel, I.es comptes du Roi Rene, Paris 1908.

1 Bulletin of the Minneapolis Institute of Arts (June 1915), Vol. IV, Number 6. Die Kenntnis dieses Teppichs ver-
danke ich Herrn Direktor Prof. Dr. Koetschau in Düsseldorf.

* Wolfgang M. Schmid, Passau: Berühmte Kunststätten, Bd. 60.

Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof.

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die hellen Augen mit den dunklen Pupillen, die Gewänder, den Rasengrund mit den Formen auf
dem Wiener Fragment und den Londoner Teppichen. Sehr ähnlich ist auch die Haltung der Fi-
guren, die merkwürdig abgetreppten dünnen Stämmchen der Blattsträucher und die Art, wie die
Blattgruppen vom hellsten Licht unvermittelt ins tiefste Dunkel abschattiert sind.
Teppich mit der Passion Christi. Saragossa, Kathedrale.1

Dieser Teppich, der zwischen 1420—1440 entstanden ist, hat die größte Verwandtschaft mit
den Londoner Stücken. Hier finden sich dieselben noch unklaren Kompositionsprinzipien, die
nämliche archaisch-unwirkliche Darstellung der Felsen, die wie aus Papier mache geformt sind, die
nämlichen Strauchgruppen, aus parallel nebeneinander gesetzten abgetreppten Stämmchen gebildet,
die auch ganz ähnlich zwischen den Felskuppen hervorwachsen, dieselbe eigentümliche Blätter-
schattierung. In ganz analoger Weise sind die viel zu kleinen Architekturen gezeichnet. Ins-
besondere aber stimmt die unruhige, durch starke Lichtkontraste bewegte Darstellung des Himmels
überein, der wie eine leicht flutende spiegelnde Wasserfläche behandelt erscheint.

Die hier in ihren wichtigsten Eigentümlichkeiten umgrenzte Gruppe von Bildwirkereien weicht
im Stil ganz wesentlich von den in Arras 1402 entstandenen Teppichen mit dem Leben der Hei-
ligen Piat und Eleuthere ab. In den spezifischen Handgewohnheiten, die durch eine starke Werk-
stattüberlieferung häufig schematisiert werden und die sich am deutlichsten in minder wichtigen
Akzessorien der Darstellung — wie Behandlung des Bodens, des Himmels, der Pflanzen, der Ar-
chitekturen etc. — aussprechen, zeigen die beiden Teppichgruppen deutliche generelle Verschie-
denheiten.

Aber auch die Serie mit Liebesszenen aus der Sammlung Davillier im Louvre,2 der ich dem
Stile nach den Teppich mit der Auferstehung Christi, ebenfalls im Louvre,3 sowie den für Martin
von Aragon und Maria de Luna angefertigten Streifen mit Johannes dem Täufer und Heiligen
(früher in der Sammlung Guilhac)* angliedern möchte, Arbeiten, die unseren Werken zeitlich un-
mittelbar nahe stehen, tragen in ihrer krausen und unruhigen Laubbehandlung, in der viel stär-

1 E. Berteaux, Les tapisseries flamandes de Saragosse: Gazette des Beaux-Arts 1909, 1. — Gaston Migeon, a.a.O.,
abgeb. p. 271. — Album de la Sccciön Arqueolögtca de la Exposiciön universal de Barcelona 1888.

s Maurice Demaison, Le Musee des Arts decoratifs: Les Arts 1905. — Gaston Migeon, Le Musee des Arts decoratifs:
Gazette des Beaux-Arts 1905.

3 Photographie Giraudon 36lo.

4 A Tapestry of Martin of Aragon and Maria de Luna: The Burlington Magazine 1905, p. 141.

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