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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 34.1918

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I. Teil: Abhandlungen
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Kurth, Betty: Die Blütezeit der Bildwirkerkunst zu Tournai und der Burgundische Hof
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https://doi.org/10.11588/diglit.6169#0101
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Die Blütezeit der Bildwirkerktmst zu Tournai und der Rurqundischc Hof.

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Zeigen die bisher aufgezählten Werke untereinander die engsten stilistischen Zusammenhänge
und können sie als Erzeugnisse eines unter den nämlichen künstlerischen Voraussetzungen schaffen-
den einheitlichen Betriebes gelten, so muß bei der im folgenden angeschlossenen kleineren Gruppe
von etwas späteren Arbeiten, die sich ebenfalls auf Tournai lokalisieren lassen, ein zwar generell
verwandter, jedoch in den Ein-

zelmerkmalen abweichender Stil
festgestellt werden.

Das Stammstück dieser
Gruppe, das unseren weiteren
Bestimmungen als Stützpunkt und
Wegweiser dienen soll, ist der
Esther-Teppich im Musee
Lorrain zu Nancy (3 m 50 cm
hoch, 4 m 50 cm lang), von dem
eine Wiederholung aus derSamm-
lung Albert Bossy nach Paris
in den Louvre gelangte (Fig. 26).1
Auch dieses Werk verdankt
wahrscheinlich, wie schon Soil
hervorhob, einem Auftrage Phi-
lipps des Guten seine Ent-
stehung. Denn eine erhaltene Ur-
kunde berichtet uns, daß Philipp
im Jahre 1462 bei Pasquier
Grenier «Six tentures represen-
tant l'histoire d'Assuerus et d'Es-
ter» erwarb,2 die gemäß einer
andern Überlieferung, nachdem
sie bei der Hochzeit Karls des
Kühnen zur Zierde eines Rau-
mes gedient hatten, dessen Zelt
vor Nancy geschmückt haben.3
Nach der großen Niederlage Karls
mag ein der Kriegsbeute entrisse-
nes Stück in der Gegend ver-
blieben sein und schließlich im
Museum von Nancy eine Zuflucht
gefunden haben. — Für die Richtigkeit der Identifizierung spricht ebensosehr die Mundart der
Inschriften auf dem Esther-Teppich, deren sprachliche Untersuchung eine völlige Übereinstimmung
mit dem Lokaldialekt der Tournaiser Urkunden ergibt, wie auch die stilistische und technische
Annäherung an die besprochene Tournaiser Gruppe. Die Verwandtschaft beschränkt sich nicht
allein auf die Grundsätze des Bildaufbaues, der Raumauffassung, die in einer völligen Ausfüllung
des Darstellungsfeldes durch eng gestaffelte lebensgroße Figuren Ausdruck findet, sondern sie äußert
sich auch in einzelnen Details der Typenzeichnung und der Materialbehandlung. Auch stimmt
die Charakterisierung der Stoffe überein, die Darstellung der reichen Brokate, der prunkvolle
schwere Edelsteinschmuck der Gewänder. Und wenn die Trachten im allgemeinen auch etwas
veränderte Modeformen zeigen, was durch die etwas spätere Entstehung zu erklären ist, so finden

1 Paul Leprieur, Le Don Albert Bossy au Musee du Louvre: Monuments et Memoires, Fondation Piot, Tome X.

2 Eugene Soil, a. a. O. 3 Gaston Migeon, Les Ans du Tissu, p. 206.

Fig. 23. Wien, k. k. Hofbibliothek, Cod. 258J.
 
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