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Rudolf Oldenbourg.
Zugleich mit dem «Seneca» und in enger Verwandtschaft mit dem «Loth» in Schwerin
dürften zwei Breitbilder entstanden sein, die bei ebenfalls sehr überlegter und klarer Ineinander-
fügung der Figuren eine Dezentralisierung des Schwergewichtes versuchen. In dem «Cimon»
der Petersburger Eremitage (Fig. 17)1 wahrt die Tochter noch den Nachdruck der Mittelachse,
der «Simson» (Fig. 18) aber belastet, ohne Einbuße des abgewogenen Gesamteindrucks, die
eine Seite überwiegend mit einem festgeschlossenen Knäuel von vier Figuren. Beiden Gemälden
ist eine ausdrückliche Klarheit der Umrisse eigen, in beiden schließen sich die Figuren untrennbar
zu massiven Gruppen zusammen,
die mit behäbiger Wucht die Bild-
fläche füllen, und beide Male spielt
sich der Vorgang ganz ohne Erre-
gung ab, was durchaus nicht allein
dem Gegenstand beizumessen ist
sondern der allgemeinen Tendenz
dieser Jahre nach strenger Unter-
ordnung des stofflichen Interesses zu-
gunsten eines durchgeistigten Linien-
spieles entspricht. Die keusche Sorge,
mit der die Tochter dem schmach-
tenden Vater die Brust hinhält, oder
das durchdachte Spiel der acht
Hände in der Simsongruppe sind
Momente, die zur Zeit der «Epi-
phanie» und der «Kreuzaufrich-
tung» noch im Strudel des stoff-
lichen Geschehens untergegangen
wären.
Einen aufschlußreichen Ein-
blick in die Art, wie Rubens un-
beirrt seinem Streben nach plasti-
scher Rundung und überlegter Li-
nienführung folgt, auch wo er an
fremde Künstler anknüpft, bietet
das Simsonbild. Es hält sich näm-
lich genau an den Figurenaufbau
von Tintorettos «Simson» beim Her-
Stich von J. L. Krafft. zog von Westminster2 (Fig. 19 ),
läßt aber bezeichnenderweise den
Schergen rechts im Vordergrund weg, mit dem Tintoretto den Blick, der von der Hauptgruppe nach
rückwärts gleitet, am anderen Bildrand noch einmal auf den Abstand der Hauptgruppe zurückführt.
Für das schichtenweise Voreinander von Flächen in verschiedenen, rhythmisch bemessenen Abstän-
den, überhaupt für alle malerisch dekorativen Absichten, die von der Handlung abziehen, hat Ru-
bens kein Auge, und wenn Tintoretto durch Beleuchtung und Farbe den Hintergrund mit den
vorderen Partien in Balance hält, um die gleichmäßig geschmückte Bildfläche durch räumliche
1 Das Gemälde, das in der vorzüglichen Photographie von Hanfstaengl einen sehr günstigen Eindruck macht, gilt als
Schulkopie; ob mit ebensowenig Recht wie das Schweriner Bild, wage ich ohne Kenntnis des Originals nicht zu behaupten.
Jedenfalls ist die Komposition durch den Stich von Coukerken beglaubigt.
2 Möglicherweise befand sich das Original von Tintoretto unter den Gemälden, die Rubens 1627 an den Herzog von
Buckingham verkaufte.
Rudolf Oldenbourg.
Zugleich mit dem «Seneca» und in enger Verwandtschaft mit dem «Loth» in Schwerin
dürften zwei Breitbilder entstanden sein, die bei ebenfalls sehr überlegter und klarer Ineinander-
fügung der Figuren eine Dezentralisierung des Schwergewichtes versuchen. In dem «Cimon»
der Petersburger Eremitage (Fig. 17)1 wahrt die Tochter noch den Nachdruck der Mittelachse,
der «Simson» (Fig. 18) aber belastet, ohne Einbuße des abgewogenen Gesamteindrucks, die
eine Seite überwiegend mit einem festgeschlossenen Knäuel von vier Figuren. Beiden Gemälden
ist eine ausdrückliche Klarheit der Umrisse eigen, in beiden schließen sich die Figuren untrennbar
zu massiven Gruppen zusammen,
die mit behäbiger Wucht die Bild-
fläche füllen, und beide Male spielt
sich der Vorgang ganz ohne Erre-
gung ab, was durchaus nicht allein
dem Gegenstand beizumessen ist
sondern der allgemeinen Tendenz
dieser Jahre nach strenger Unter-
ordnung des stofflichen Interesses zu-
gunsten eines durchgeistigten Linien-
spieles entspricht. Die keusche Sorge,
mit der die Tochter dem schmach-
tenden Vater die Brust hinhält, oder
das durchdachte Spiel der acht
Hände in der Simsongruppe sind
Momente, die zur Zeit der «Epi-
phanie» und der «Kreuzaufrich-
tung» noch im Strudel des stoff-
lichen Geschehens untergegangen
wären.
Einen aufschlußreichen Ein-
blick in die Art, wie Rubens un-
beirrt seinem Streben nach plasti-
scher Rundung und überlegter Li-
nienführung folgt, auch wo er an
fremde Künstler anknüpft, bietet
das Simsonbild. Es hält sich näm-
lich genau an den Figurenaufbau
von Tintorettos «Simson» beim Her-
Stich von J. L. Krafft. zog von Westminster2 (Fig. 19 ),
läßt aber bezeichnenderweise den
Schergen rechts im Vordergrund weg, mit dem Tintoretto den Blick, der von der Hauptgruppe nach
rückwärts gleitet, am anderen Bildrand noch einmal auf den Abstand der Hauptgruppe zurückführt.
Für das schichtenweise Voreinander von Flächen in verschiedenen, rhythmisch bemessenen Abstän-
den, überhaupt für alle malerisch dekorativen Absichten, die von der Handlung abziehen, hat Ru-
bens kein Auge, und wenn Tintoretto durch Beleuchtung und Farbe den Hintergrund mit den
vorderen Partien in Balance hält, um die gleichmäßig geschmückte Bildfläche durch räumliche
1 Das Gemälde, das in der vorzüglichen Photographie von Hanfstaengl einen sehr günstigen Eindruck macht, gilt als
Schulkopie; ob mit ebensowenig Recht wie das Schweriner Bild, wage ich ohne Kenntnis des Originals nicht zu behaupten.
Jedenfalls ist die Komposition durch den Stich von Coukerken beglaubigt.
2 Möglicherweise befand sich das Original von Tintoretto unter den Gemälden, die Rubens 1627 an den Herzog von
Buckingham verkaufte.