Ein Frühwerk des Geertgen tot Sint Jans und die holländische Malerei des XV. Jahrhunderts.
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gehoben, daß Geertgen in keinem näheren Schulverhältnis zu dem Genter Meister gestanden
haben kann. Sein Formempfinden wie seine Malweise, seine Bildung der Typen und Falten
bleiben auch nach der vlämischen Reise von der Art des van der Goes völlig verschieden.
Auch scheint es von den Gemälden des Genters der Monforte-Altar allein gewesen zu sein, der
eine so tiefe Wirkung auf den Haarlemer Künstler ausübte, daß wir das Nachwirken bei mehreren
Werken der reifen Zeit feststellen können.1 Noch ein zweites südniederländisches Werk, eine
heute nur in Kopien erhaltene Grablegung Christi von Rogier van der Wey den hat in Geertgen
auf seiner Reise einen tiefen
Eindruck hinterlassen. Von bei-
den Gemälden hat er für seine
Wiener Beweinung (Tafel II) je
eine Figur entlehnt, diese aber
so zu verwenden gewußt, daß
sie völlig wie Kinder seines eige-
nen Geistes erscheinen. Aber für
seine Entwicklung war nur der
Stil des Hugo van der Goes von
Wichtigkeit,3 von Rogier blieb
nur die Erinnerung an die eine
großangelegte Figur zurück.
In Geertgens Auferweckung
des Lazarus im Louvre (Fig. 16)
zeigt sich neben dem Nachwirken
von Ouwaters Berliner Bild auch
ein Einfluß Goesscher Kunst. Ihr
scheint es vor allem zu danken,
daß Geertgen von der Anordnung
der Hauptfiguren auf einer schma-
len Vordergrundsbühne abwich
und seine Gestalten frei in
den Raum hinein komponierte.
Gegenüber Ouwaters Schöpfung
hat Geertgens Tafel an inhalt-
licher Konzentration, an plasti-
scher Durchbildung der Figuren
und natürlicher Freiheit ihrer
Bewegung erheblich gewonnen.
Auch in der Landschaft zeigt
sich gegenüber der noch konventionellen Detailbehandlung der früheren Bilder eine neue Intimität
der Empfindung, ein Versenken in anmutige Motive, ein unmittelbares Studium der Natur, das
Fig. 16.
Geertgen tot Sint Jans, Die Auferweckung des Lazarus.
Paris, Louvre.
1 Die von Goldschmidt publizierte Epiphanie in der Sammlung C. J. de Bordes in Velp, die Friedländer für ein zum Teil
stark übermaltes aber eigenhändiges Werk Geertgens erklärt haben soll, ist mir nur aus diesem kleinen Netzdruck, der kein
Urteil zuläßt, bekannt. Da hier bereits der Monforte-Altar benützt ist, muß die Komposition in den Beginn der reifen Zeit
des Künstlers fallen.
* Auch bei einem anderen holländischen Künstler, der ungefähr gleichzeitig tätig war, bei dem Meister der Virgo inter
virgines läßt sich Goesscher Einfluß mutmaßen. Dieser zeigt sich vor allem auf dem Marienaltar im Salzburger Museum
(publiziert von Voß, Onze Kunst VI [1909], S. yi ff.) im Zuge des Gefolges der drei Könige, das an die Mittelgrundsfiguren
des Genter Meisters lebhaft erinnert, und in der ungewöhnlich eingehenden Wiedergabe der Vegetation. Die Darstellung des
Kindermordes klingt an den linken Flügel des Epiphaniealtärchens in St. Petersburg, eines Frühwerkes des Hugo van der
Goes, an.
XXXV. 4
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gehoben, daß Geertgen in keinem näheren Schulverhältnis zu dem Genter Meister gestanden
haben kann. Sein Formempfinden wie seine Malweise, seine Bildung der Typen und Falten
bleiben auch nach der vlämischen Reise von der Art des van der Goes völlig verschieden.
Auch scheint es von den Gemälden des Genters der Monforte-Altar allein gewesen zu sein, der
eine so tiefe Wirkung auf den Haarlemer Künstler ausübte, daß wir das Nachwirken bei mehreren
Werken der reifen Zeit feststellen können.1 Noch ein zweites südniederländisches Werk, eine
heute nur in Kopien erhaltene Grablegung Christi von Rogier van der Wey den hat in Geertgen
auf seiner Reise einen tiefen
Eindruck hinterlassen. Von bei-
den Gemälden hat er für seine
Wiener Beweinung (Tafel II) je
eine Figur entlehnt, diese aber
so zu verwenden gewußt, daß
sie völlig wie Kinder seines eige-
nen Geistes erscheinen. Aber für
seine Entwicklung war nur der
Stil des Hugo van der Goes von
Wichtigkeit,3 von Rogier blieb
nur die Erinnerung an die eine
großangelegte Figur zurück.
In Geertgens Auferweckung
des Lazarus im Louvre (Fig. 16)
zeigt sich neben dem Nachwirken
von Ouwaters Berliner Bild auch
ein Einfluß Goesscher Kunst. Ihr
scheint es vor allem zu danken,
daß Geertgen von der Anordnung
der Hauptfiguren auf einer schma-
len Vordergrundsbühne abwich
und seine Gestalten frei in
den Raum hinein komponierte.
Gegenüber Ouwaters Schöpfung
hat Geertgens Tafel an inhalt-
licher Konzentration, an plasti-
scher Durchbildung der Figuren
und natürlicher Freiheit ihrer
Bewegung erheblich gewonnen.
Auch in der Landschaft zeigt
sich gegenüber der noch konventionellen Detailbehandlung der früheren Bilder eine neue Intimität
der Empfindung, ein Versenken in anmutige Motive, ein unmittelbares Studium der Natur, das
Fig. 16.
Geertgen tot Sint Jans, Die Auferweckung des Lazarus.
Paris, Louvre.
1 Die von Goldschmidt publizierte Epiphanie in der Sammlung C. J. de Bordes in Velp, die Friedländer für ein zum Teil
stark übermaltes aber eigenhändiges Werk Geertgens erklärt haben soll, ist mir nur aus diesem kleinen Netzdruck, der kein
Urteil zuläßt, bekannt. Da hier bereits der Monforte-Altar benützt ist, muß die Komposition in den Beginn der reifen Zeit
des Künstlers fallen.
* Auch bei einem anderen holländischen Künstler, der ungefähr gleichzeitig tätig war, bei dem Meister der Virgo inter
virgines läßt sich Goesscher Einfluß mutmaßen. Dieser zeigt sich vor allem auf dem Marienaltar im Salzburger Museum
(publiziert von Voß, Onze Kunst VI [1909], S. yi ff.) im Zuge des Gefolges der drei Könige, das an die Mittelgrundsfiguren
des Genter Meisters lebhaft erinnert, und in der ungewöhnlich eingehenden Wiedergabe der Vegetation. Die Darstellung des
Kindermordes klingt an den linken Flügel des Epiphaniealtärchens in St. Petersburg, eines Frühwerkes des Hugo van der
Goes, an.
XXXV. 4