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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 35.1920-1921

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Baldass, Ludwig: Ein Frühwerk des Geertgen tot Sint Jans und die holländische Malerei des XV. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.6170#0042
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MABUSES «HEILIGE NACHT», EINE FREIE KOPIE NACH HUGO

VAN DER GOES

Von

Ludwig von Baldass.

us dem letzten Drittel des XV. und dem ersten des XVI. Jahrhunderts sind eine
Anzahl von Gemälden mit der Geburt Christi auf uns gekommen, die als Nacht-
stücke behandelt sind. Auf diesen Darstellungen bildet die einzige oder zu-
mindest die hauptsächliche Lichtquelle der kleine Körper des Christkindes, der
milde Strahlen nach allen Seiten entsendet und so einzelne Bildpartien fast
taghell erleuchtet, während andere in tiefe Dämmerschatten getaucht sind. Das
religiöse Verlangen, den neugeborenen Heiland auch körperlich als Spender
alles Lichtes auf Erden darzustellen, verbindet sich hier mit dem Ehrgeiz des Malers, seine Kunst
der vollendeten Naturwiedergabe auch an dem Problem der künstlichen Beleuchtung zu erproben.
Das Problem der Nachtdarstellung überhaupt scheint zuerst in Holland aufgegriffen worden zu sein.
Unter den nächtlichen Anbetungen des Christkindes aber ragt an Bedeutung und Schönheit eine
Komposition hervor, von der drei verschiedene vlämische Fassungen auf uns gekommen sind.

Die kleinste dieser Fassungen bildet die Mitteltafel eines Flügelaltärchens in der Hauptkirche
zu Annaberg in Sachsen (Fig. i) und stammt von einem tüchtigen aber wenig eigenartigen Künst-
ler aus der Zeit um 1500.1 Auf den Innenseiten der Flügel sehen wir in jene schmalen, tiefen
gotischen Innenräume, die uns vor allem von den Gemälden des Meisters von Flemalle bekannt
sind. Links kniet am Betstuhl die heilige Jungfrau — sie erinnert in der Bewegung an die Maria
auf der Verkündigung der Außenseiten des Altärchens von Hugo van der Goes in der Liechten-
steingalerie — und rechts naht der Erzengel Gabriel.

Die zweite, wenig größere Fassung ist in mehreren übereinstimmenden Wiederholungen, die
alle aus dem Kreise Gerard Davids stammen, auf uns gekommen. Unter den verschiedenen Exem-
plaren gilt allgemein als das beste das Gemälde Nr. 641 der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien
(Tafel III) das im Inventar der Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm von 1659« als in der
Manier des Jan van Eyck beschrieben ist. Es wurde von Scheibler2 auf Gerard David bestimmt,
Bodenhausen3 aber ließ es nur als Werkstattreplik gelten. Eine 1917 vorgenommene Reinigung des
durch Schmutz, eingeschlagenen Firnis und stellenweise auch durch plumpe Übermalungen arg
entstellten Bildes ergab, daß wir hier ein in allen wesentlichen Partien vorzüglich erhaltenes,
eigenhändiges Werk des Brügger Meisters vor uns haben, das durch ein besonders reiches und
blumiges Kolorit ausgezeichnet ist. Es ist an allen Seiten ein wenig beschnitten. Die zeitgenössische

1 Von Waagen (Künstler und Kunstwerke in Deutschland I; S. 41) einem sekundären niederländischen Maler aus dem
ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts zugeschrieben. Veröffentlicht in Umrißzeichnungen in den Bau- und Kunstdenkmälern
des Königreichs Sachsen IV, S. 40ff. Ein Lichtdruck bei E. O. Schmidt: Die St. Annenkirche zu Annaberg. Leipzig, B. G.
Trübner 1908, T. 20. Leider ist es nicht gelungen, eine reproduzierbare Photographie des Altärchens aufzutreiben oder neu
anfertigen zu lassen.

3 Repertorium für Kunstwissenschaft X, S. 280 (Engerth Nr. 83o).

3 Gerard David und seine Schule, München 1905, Nr. 17, S. 124fr. Die von Bodenhausen erwähnten Wiederholungen
im englischen Kunsthandel (nach Friedländer wäre diese dem Wiener Bilde gleichwertig) und im Privatbesitz zu Frankfurt
am Main sind mir nicht bekannt geworden.
 
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