io6
E. Tietze-Conrat.
hagen bringt eine eigens für das Material und die konische Form geschaffene Erfindung des Malers.1
Das erhellt aus der im Stich erhaltenen Zeichnung, auf der die nebensächliche Gruppe der Rück-
ansicht und die stark akzentuierte der Vorderansicht zum Nebeneinander aufgerollt sind, einem
Nebeneinander, das als Bildkomposition sinnlos wäre.
Daß wir aus diesem Verzicht skulptural schaffender Künstler auf die Erfindung keine Ver-
minderung der künstlerischen Leistung folgern dürfen, steht zu unserer heutigen Auffassung des
künstlerischen Schaffens im Gegensatz, weil wir immer nur die Höchstleistung mit ihrem persön-
lichsten Erlebnis in einer nur diesem angemessenen Ausdrucksweise im Auge haben und die Kunst
als soziale Tätigkeit, die das abschreckende Werk der einzelnen Vorwärtsstürmenden ins Verständ-
liche, Gangbare verbreitern möchte, nicht berücksichtigen. Aus dieser individualistischen Tendenz
Fig. 6. Primaticcios Schule, Stich der «Invidia».
Kein Drang
zur Erfindung,
die Komposition
wird typisiert.
heraus, in der nahsichtigen Beschränkung unserer zeitgenössischen Betrachtung, suchen und finden
wir in der Gegenwartskunst nur die Unterschiede, Imponderabilien für eine spätere Rückschau und
geringe Abweichungen von den wenigen eingreifenden Lösungen. Doch wie so oft im historischen
Geschehen, so auch hier in unserem Verhältnis zur Erfindung ist nicht das Ergebnis sondern nur
die psychologische Voraussetzung dazu eine andere geworden.
Die soziale Aufgabe der religiösen Kunst, den Ärmsten im Geiste noch lebendig zu sein, ließ
die gefundene kompositionelle Ordnung zum Typus erstarken, die ins tägliche Leben aller Ober-
schichten weit verzweigte klassische Kultur gab den antikisierenden Mythen denselben Zwang. So
war es vom Künstler zu seinem Publikum. Und den Künstler selbst drängte es nicht, die be-
schränkte Zahl der ererbten Lösungen zu bereichern. Sowie die Dichtung nur eine beschränkte
Zahl dramatischer Motive kennt — Schiller zählt sechsunddreißig —, so sammeln sich auch für die
bildende Kunst gleichartige Motive zu feststehenden Kompositionstypen; ihre Starre ist eindrucks-
1 Gustav Glück, Ober Entwürfe von Rubens zu Elfenbeinarbeiten Lucas Faid'herbes, in diesem Jahrbuch XXV.
E. Tietze-Conrat.
hagen bringt eine eigens für das Material und die konische Form geschaffene Erfindung des Malers.1
Das erhellt aus der im Stich erhaltenen Zeichnung, auf der die nebensächliche Gruppe der Rück-
ansicht und die stark akzentuierte der Vorderansicht zum Nebeneinander aufgerollt sind, einem
Nebeneinander, das als Bildkomposition sinnlos wäre.
Daß wir aus diesem Verzicht skulptural schaffender Künstler auf die Erfindung keine Ver-
minderung der künstlerischen Leistung folgern dürfen, steht zu unserer heutigen Auffassung des
künstlerischen Schaffens im Gegensatz, weil wir immer nur die Höchstleistung mit ihrem persön-
lichsten Erlebnis in einer nur diesem angemessenen Ausdrucksweise im Auge haben und die Kunst
als soziale Tätigkeit, die das abschreckende Werk der einzelnen Vorwärtsstürmenden ins Verständ-
liche, Gangbare verbreitern möchte, nicht berücksichtigen. Aus dieser individualistischen Tendenz
Fig. 6. Primaticcios Schule, Stich der «Invidia».
Kein Drang
zur Erfindung,
die Komposition
wird typisiert.
heraus, in der nahsichtigen Beschränkung unserer zeitgenössischen Betrachtung, suchen und finden
wir in der Gegenwartskunst nur die Unterschiede, Imponderabilien für eine spätere Rückschau und
geringe Abweichungen von den wenigen eingreifenden Lösungen. Doch wie so oft im historischen
Geschehen, so auch hier in unserem Verhältnis zur Erfindung ist nicht das Ergebnis sondern nur
die psychologische Voraussetzung dazu eine andere geworden.
Die soziale Aufgabe der religiösen Kunst, den Ärmsten im Geiste noch lebendig zu sein, ließ
die gefundene kompositionelle Ordnung zum Typus erstarken, die ins tägliche Leben aller Ober-
schichten weit verzweigte klassische Kultur gab den antikisierenden Mythen denselben Zwang. So
war es vom Künstler zu seinem Publikum. Und den Künstler selbst drängte es nicht, die be-
schränkte Zahl der ererbten Lösungen zu bereichern. Sowie die Dichtung nur eine beschränkte
Zahl dramatischer Motive kennt — Schiller zählt sechsunddreißig —, so sammeln sich auch für die
bildende Kunst gleichartige Motive zu feststehenden Kompositionstypen; ihre Starre ist eindrucks-
1 Gustav Glück, Ober Entwürfe von Rubens zu Elfenbeinarbeiten Lucas Faid'herbes, in diesem Jahrbuch XXV.