Kekule, Über einen angeblichen Ausspruch des Lysipp.
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die Leute porträtirt wie sie sind, unter dem Druck der Gegenwart, in der Ver-
kümmerung wie sie das Leben bringt: ich stelle sie dar, wie sie sich in ihren besten
Augenblicken zeigen, wie sie eigentlich aussehen sollten und aussehen möchten« —
»freilich dadurch, dafs ich ihnen den Stempel meiner eigenen Persönlichkeit und
Kunst aufpräge«: das hätte Lysipp einem solchen Satze zufügen können.
Für uns würde bei dieser Erklärung Lysipp etwas thatsächlich richtiges aus-
gesprochen haben. Aber nicht im Sinne des Altertums.
Zunächst liefse sich vorweg die Frage aufwerfen, ob die grofsen Idealpor-
trätbildner sich ihres Idealisirens überhaupt so genau bewufst sind. Unzweifelhaft
aber hatte Alexander der Grofse nicht die Meinung, dafs Lysipp ihn idealisire,
sondern nur, dafs er ihn richtig verstehe. Wenn Aristoteles die lysippiscb.cn Por-
träts ansah, hat er gewifs nicht gedacht, sie stellten die Menschen dar ofou; slvai
osT, sondern oiot etoi'v. Für ihn und seine Zeitgenossen war der Gegensatz gegen
Lysipp als Porträtbildner nicht Silanion, sondern etwa Kresilas, von dessen Bild-
nissen es bei Plinius heifst mirum in hac arte est quod nobiles viros nobiliores fecit,
während Lysipp und Praxiteles nach dem bei Quintilian aufbewahrten Urteil ad
veritatem optime accessernnt.
Aber es ist überhaupt nicht zulässig, den lysippischen Ausspruch auf die
Porträts zu beschränken oder ihn sonst irgendwie aus dem Zusammenhang der
plinianischen Stelle herauszulösen und vereinzelt zu deuten. Plinius berichtet von
den Änderungen, die Lysipp an den Proportionen vorgenommen habe, und im
engsten Anschlufs daran von jenem Ausspruch, der sich demgemäfs, wie schon
O. Müller und Brunn einsahen, eben nur auf die Proportionen des menschlichen
Körpers beziehen kann. Die ganze Stelle weist deutlich zurück auf die vorherge-
gangene, in der von den Proportionen des Polyklet die Rede ist, und deshalb mufs
zweifellos unter den veteres Polyklet verstanden werden.
Sollte etwa Lysipp nichts anderes haben sagen wollen, als dafs ihm persön-
lich schlanke Gestalten besonders wohl gefielen und dafs er in der Kunst schlanke
Gestalten für vorteilhafter halte als schwere?
So harmlos, etwa als Anweisung für Gehülfen und Schüler läfst sich der
Ausspruch nicht auffassen. Erstens verbietet dies die Lebhaftigkeit und Ausführ-
lichkeit, mit welcher der Gegensatz Lysipps gegen Polyklet hervorgekehrt und
Lysipp ausdrücklich eine angebliche Abweichung von der Natur zum Lobe ange-
rechnet wird. Zweitens verbietet dies der offenkundige Zusammenhang mit dem
sophokleischen Ausspruch bei Aristoteles. Die beiden Aussprüche sind zu gleich-
artig als dafs sie unabhängig von einander entstanden sein könnten. Es ist doch
ohne weiteres selbstverständlich, dafs der sophokleische Ausspruch bei Aristoteles
das Vorbild, der lysippische bei Plinius die Nachahmung ist.
Nicht nur geringe, auch grofse Künstler haben mitunter künstlerische An-
schauungen in philosophischen Formeln ausgesprochen, welche mit dem Kern ihrer
Kunst nichts zu schaffen haben. Dafs Lysipp seiner Vorliebe für schlanke Ge-
stalten, einer Vorschrift für seine Schüler selbst einen so sonderbaren Ausdruck ge-
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die Leute porträtirt wie sie sind, unter dem Druck der Gegenwart, in der Ver-
kümmerung wie sie das Leben bringt: ich stelle sie dar, wie sie sich in ihren besten
Augenblicken zeigen, wie sie eigentlich aussehen sollten und aussehen möchten« —
»freilich dadurch, dafs ich ihnen den Stempel meiner eigenen Persönlichkeit und
Kunst aufpräge«: das hätte Lysipp einem solchen Satze zufügen können.
Für uns würde bei dieser Erklärung Lysipp etwas thatsächlich richtiges aus-
gesprochen haben. Aber nicht im Sinne des Altertums.
Zunächst liefse sich vorweg die Frage aufwerfen, ob die grofsen Idealpor-
trätbildner sich ihres Idealisirens überhaupt so genau bewufst sind. Unzweifelhaft
aber hatte Alexander der Grofse nicht die Meinung, dafs Lysipp ihn idealisire,
sondern nur, dafs er ihn richtig verstehe. Wenn Aristoteles die lysippiscb.cn Por-
träts ansah, hat er gewifs nicht gedacht, sie stellten die Menschen dar ofou; slvai
osT, sondern oiot etoi'v. Für ihn und seine Zeitgenossen war der Gegensatz gegen
Lysipp als Porträtbildner nicht Silanion, sondern etwa Kresilas, von dessen Bild-
nissen es bei Plinius heifst mirum in hac arte est quod nobiles viros nobiliores fecit,
während Lysipp und Praxiteles nach dem bei Quintilian aufbewahrten Urteil ad
veritatem optime accessernnt.
Aber es ist überhaupt nicht zulässig, den lysippischen Ausspruch auf die
Porträts zu beschränken oder ihn sonst irgendwie aus dem Zusammenhang der
plinianischen Stelle herauszulösen und vereinzelt zu deuten. Plinius berichtet von
den Änderungen, die Lysipp an den Proportionen vorgenommen habe, und im
engsten Anschlufs daran von jenem Ausspruch, der sich demgemäfs, wie schon
O. Müller und Brunn einsahen, eben nur auf die Proportionen des menschlichen
Körpers beziehen kann. Die ganze Stelle weist deutlich zurück auf die vorherge-
gangene, in der von den Proportionen des Polyklet die Rede ist, und deshalb mufs
zweifellos unter den veteres Polyklet verstanden werden.
Sollte etwa Lysipp nichts anderes haben sagen wollen, als dafs ihm persön-
lich schlanke Gestalten besonders wohl gefielen und dafs er in der Kunst schlanke
Gestalten für vorteilhafter halte als schwere?
So harmlos, etwa als Anweisung für Gehülfen und Schüler läfst sich der
Ausspruch nicht auffassen. Erstens verbietet dies die Lebhaftigkeit und Ausführ-
lichkeit, mit welcher der Gegensatz Lysipps gegen Polyklet hervorgekehrt und
Lysipp ausdrücklich eine angebliche Abweichung von der Natur zum Lobe ange-
rechnet wird. Zweitens verbietet dies der offenkundige Zusammenhang mit dem
sophokleischen Ausspruch bei Aristoteles. Die beiden Aussprüche sind zu gleich-
artig als dafs sie unabhängig von einander entstanden sein könnten. Es ist doch
ohne weiteres selbstverständlich, dafs der sophokleische Ausspruch bei Aristoteles
das Vorbild, der lysippische bei Plinius die Nachahmung ist.
Nicht nur geringe, auch grofse Künstler haben mitunter künstlerische An-
schauungen in philosophischen Formeln ausgesprochen, welche mit dem Kern ihrer
Kunst nichts zu schaffen haben. Dafs Lysipp seiner Vorliebe für schlanke Ge-
stalten, einer Vorschrift für seine Schüler selbst einen so sonderbaren Ausdruck ge-