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ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES CRUCIF1XES
uns Christus ruhig ohne einen Schmerzenszug vor dem Kreuze stehend darstellt. Nur
die Nägel, mit denen die Hände durchbohrt sind, erinnern an die entsetzliche Wirk-
lichkeit und stellen so unser Bild zugleich an den Beginn der Entwicklungsreihe der
späteren realistischen Kreuzigungsdarstellungen.
So weist denn sowohl der Stilcharakter des Bildes als auch die durch dasselbe
vertretene Entwickelungsstufe in der Darstellung des Todes Jesu auf die Schlusszeit
der altchristlichen Epoche hin. Dieselbe Zeitbestimmung ergab sich mir aus der Be-
trachtung der übrigen Thürreliefs, so dass ich [im Jahre 1873*)] schreiben konnte:
„Das Werk hat in jeder Hinsicht den Charakter einer altchristlichen Arbeit spätestens
aus dem VI. Jahrhundert. Die Darstellungen aus dem Leben Jesu: die Anbetung der
Könige, die Heilung des Blinden, die Vermehrung der Brode und Fische, das Wunder
zu Kana, die Ankündigung der Verläugnung Petri, Christus vor Pilatus etc., ferner
die auf Moses bezüglichen Scenen, dann Eliä Himmelfahrt und Anderes ist in ikono-
graphischer Hinsicht altchristlich, in stylistischer aber steht die hier in Frage kommende
Kunst der spätrömischen ganz nahe."
Seitdem hat G. B. de Rossi, unter Anerkennung der von mir angeführten
Gründe, es für möglich erklärt, dass die Thürreliefs, welche „den Typen und dem
Stil der Sarkophage und Elfenbeinarbeiten des V. Jahrhunderts sehr ähnlich" seien,
aus der Stiftungszeit der Kirche stammen.**) Nach dieser Aeusserung des berühmten
Kenners der altchristlichen Kunst fasse ich nun meine Bemerkung vom Jahre 1873
bestimmter, indem ich sage: Stilistisch passt die Thür besser in's fünfte Jahrhun-
dert als in's sechste, und zwar aus folgenden Gründen: Gestalten, wie diejenige des,
eine antike Victoria direct nachahmenden Engels in der Elias- sowie der Habakuk-
Scene, oder wie diejenige des bei der Verfolgung der Juden im rothen Meere umkommen-
den Pharao, eine treffliche Nachahmung einer jugendlichen römischen Kaiserfigur,
würden, für sich betrachtet, sogar in eine noch frühere Zeit, etwa das II. oder III. Jahr-
hundert weisen; im VI. Jahrhundert aber sind sie kaum mehr denkbar. Wie so ganz
antik sind ferner die vier feurigen Rosse gehalten, welche den Streitwagen des stolz
mit gezücktem Schwerte darin stehenden Pharao ziehen und mit den Wellen kämpfen!
Neben solchen direct der heidnisch römischen Kunst entnommenen Motiven zeigt die
Thür specifisch altchristliche Elemente, die denjenigen an christlichen Sarkophagen
und andern Denkmälern der ersten fünf Jahrhunderte entsprechen. Man vergleiche
z. B. die Darstellung der Vermehrung der Brote und Fische an der Thür mit dem
genau entsprechenden Bilde in den Katakomben des heiligen Calixtus***), oder die
Gestalt des Moses bei dem Wasserwunder (Sta. Sabina) mit derjenigen an dem schönen
Sarkophag aus S. Paolo fuori le mura im Lateran. Vor Allem aber zeigen uns neben
einigen Gestalten von hohem schlanken Wüchse die meisten Figuren der Reliefs jene
eigenthümlich kurzen stämmigen Proportionen, welche für die altchristliche Sarkophag-
sculptur des IV. und V. Jahrhunderts so bezeichnend sind. Von byzantinischen Ein-
flüssen, wie dieselben etwa an den Reliefs der Kathedra des Maximianus in Ravenna
aus dem VI. Jahrhundert zu Tage treten, ist hier noch nichts zu bemerken. Auch das
Costüm und der Typus der Köpfe weisen uns eher in's V. als in's VI. Jahrhundert.
*) a. a. O. S. 87. 88. n. 100.
**) Musaici cristiani delle o hiese di Roma, fase. III n. 5: „Forse un attento esame le
fara riconoscere contemporanee della fondazione della basilica nel secolo quinto." Die
Kirche wurde von Papst Coelestin I. (422—432) gestiftet.
***) Ch. Rohault de Fleury, L'Evangile, Tours 1874 T. LV.
ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES CRUCIF1XES
uns Christus ruhig ohne einen Schmerzenszug vor dem Kreuze stehend darstellt. Nur
die Nägel, mit denen die Hände durchbohrt sind, erinnern an die entsetzliche Wirk-
lichkeit und stellen so unser Bild zugleich an den Beginn der Entwicklungsreihe der
späteren realistischen Kreuzigungsdarstellungen.
So weist denn sowohl der Stilcharakter des Bildes als auch die durch dasselbe
vertretene Entwickelungsstufe in der Darstellung des Todes Jesu auf die Schlusszeit
der altchristlichen Epoche hin. Dieselbe Zeitbestimmung ergab sich mir aus der Be-
trachtung der übrigen Thürreliefs, so dass ich [im Jahre 1873*)] schreiben konnte:
„Das Werk hat in jeder Hinsicht den Charakter einer altchristlichen Arbeit spätestens
aus dem VI. Jahrhundert. Die Darstellungen aus dem Leben Jesu: die Anbetung der
Könige, die Heilung des Blinden, die Vermehrung der Brode und Fische, das Wunder
zu Kana, die Ankündigung der Verläugnung Petri, Christus vor Pilatus etc., ferner
die auf Moses bezüglichen Scenen, dann Eliä Himmelfahrt und Anderes ist in ikono-
graphischer Hinsicht altchristlich, in stylistischer aber steht die hier in Frage kommende
Kunst der spätrömischen ganz nahe."
Seitdem hat G. B. de Rossi, unter Anerkennung der von mir angeführten
Gründe, es für möglich erklärt, dass die Thürreliefs, welche „den Typen und dem
Stil der Sarkophage und Elfenbeinarbeiten des V. Jahrhunderts sehr ähnlich" seien,
aus der Stiftungszeit der Kirche stammen.**) Nach dieser Aeusserung des berühmten
Kenners der altchristlichen Kunst fasse ich nun meine Bemerkung vom Jahre 1873
bestimmter, indem ich sage: Stilistisch passt die Thür besser in's fünfte Jahrhun-
dert als in's sechste, und zwar aus folgenden Gründen: Gestalten, wie diejenige des,
eine antike Victoria direct nachahmenden Engels in der Elias- sowie der Habakuk-
Scene, oder wie diejenige des bei der Verfolgung der Juden im rothen Meere umkommen-
den Pharao, eine treffliche Nachahmung einer jugendlichen römischen Kaiserfigur,
würden, für sich betrachtet, sogar in eine noch frühere Zeit, etwa das II. oder III. Jahr-
hundert weisen; im VI. Jahrhundert aber sind sie kaum mehr denkbar. Wie so ganz
antik sind ferner die vier feurigen Rosse gehalten, welche den Streitwagen des stolz
mit gezücktem Schwerte darin stehenden Pharao ziehen und mit den Wellen kämpfen!
Neben solchen direct der heidnisch römischen Kunst entnommenen Motiven zeigt die
Thür specifisch altchristliche Elemente, die denjenigen an christlichen Sarkophagen
und andern Denkmälern der ersten fünf Jahrhunderte entsprechen. Man vergleiche
z. B. die Darstellung der Vermehrung der Brote und Fische an der Thür mit dem
genau entsprechenden Bilde in den Katakomben des heiligen Calixtus***), oder die
Gestalt des Moses bei dem Wasserwunder (Sta. Sabina) mit derjenigen an dem schönen
Sarkophag aus S. Paolo fuori le mura im Lateran. Vor Allem aber zeigen uns neben
einigen Gestalten von hohem schlanken Wüchse die meisten Figuren der Reliefs jene
eigenthümlich kurzen stämmigen Proportionen, welche für die altchristliche Sarkophag-
sculptur des IV. und V. Jahrhunderts so bezeichnend sind. Von byzantinischen Ein-
flüssen, wie dieselben etwa an den Reliefs der Kathedra des Maximianus in Ravenna
aus dem VI. Jahrhundert zu Tage treten, ist hier noch nichts zu bemerken. Auch das
Costüm und der Typus der Köpfe weisen uns eher in's V. als in's VI. Jahrhundert.
*) a. a. O. S. 87. 88. n. 100.
**) Musaici cristiani delle o hiese di Roma, fase. III n. 5: „Forse un attento esame le
fara riconoscere contemporanee della fondazione della basilica nel secolo quinto." Die
Kirche wurde von Papst Coelestin I. (422—432) gestiftet.
***) Ch. Rohault de Fleury, L'Evangile, Tours 1874 T. LV.