1896
JUGEND
Nr. 5
Wie der
Porträtmaler Crapülinsky auch einmal ein Thierstück, auf
die Leinwand geworfen hat.
In der Stille.
Von Lisbeth Lindemann.
Die Julisonne brütete heiss in dem
kleinen Hofraum hinter dem Hause;
das frischgetünchte Mauerwerk ver-
breitete einen scharfen Geruch. Zu-
vorkommend hatte mir der Architekt
die Wohnräume des Neubau’s ge-
zeigt; als er abgerufen wurde, über-
liess er mir allein die Besichtigung
des Gartens. Die Arbeiter befanden
sich im benachbarten Wirthshaus-
garten und hielten Mittagsrast. Ich
stieg vorsichtig über Sandhaufen, zer-
streute Ziegel und Bretter und ging
an der Kalkgrube vorbei in den Garten. Auf den ersten Buschen
lagerte dicker Staub, welcher vom Bau herübergewirbelt war,
dann aber folgte ein angenehmer, schattiger Weg und vor mir
lag eine kleine Rasenfläche, von hohen Kastanien umgeben.
Befriedigt sah ich mich um; »jede Partei hat das Recht auf
einen Theil des Gartens« — hatte der Architekt gesagt. Ich
war entschlossen, mir, als voraussichtlich erstem Miether,
dieses Stück Garten zu sichern; denn selbst vom Nachbar-
garten, dessen Grenze durch einen Zaun markirt war, ragten
stattliche Bäume herüber, so dass man die Häuser nicht sah.
Im Begriff umzukehren, höre ich etwas, wie Athemzüge
eines schlafenden Menschen; und nun, ganz deutlich, ein
leiser Schrei, wie von einem schlaftrunkenen Kinde. Me-
chanisch wende ich mich nach der Richtung, aus welcher die
Töne zu kommen scheinen: wenige Schritte von mir steht
ein kleiner Holzschuppen. Als ich mich vorsichtig nähere,
finde ich hinter einem Haufen aufgeschichteter Bretter und
Geräthschaften, ganz in einer Ecke zusammengekauert, ein
Weib sitzen; auf ihrem Schooss liegt, halb unter ihrer Schürze
verborgen, ein Kind. Ihr Kopf lehnt an der Bretterwand,
Kopftuch und Haare sind rothbestäubt; ohne Zweifel ist sie
als Ziegelträgerin auf dem Bau beschäftigt. Sie hat die lose
Jacke zurückgeschlagen, so dass die eine Brust frei ist; das
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JUGEND
Nr. 5
Wie der
Porträtmaler Crapülinsky auch einmal ein Thierstück, auf
die Leinwand geworfen hat.
In der Stille.
Von Lisbeth Lindemann.
Die Julisonne brütete heiss in dem
kleinen Hofraum hinter dem Hause;
das frischgetünchte Mauerwerk ver-
breitete einen scharfen Geruch. Zu-
vorkommend hatte mir der Architekt
die Wohnräume des Neubau’s ge-
zeigt; als er abgerufen wurde, über-
liess er mir allein die Besichtigung
des Gartens. Die Arbeiter befanden
sich im benachbarten Wirthshaus-
garten und hielten Mittagsrast. Ich
stieg vorsichtig über Sandhaufen, zer-
streute Ziegel und Bretter und ging
an der Kalkgrube vorbei in den Garten. Auf den ersten Buschen
lagerte dicker Staub, welcher vom Bau herübergewirbelt war,
dann aber folgte ein angenehmer, schattiger Weg und vor mir
lag eine kleine Rasenfläche, von hohen Kastanien umgeben.
Befriedigt sah ich mich um; »jede Partei hat das Recht auf
einen Theil des Gartens« — hatte der Architekt gesagt. Ich
war entschlossen, mir, als voraussichtlich erstem Miether,
dieses Stück Garten zu sichern; denn selbst vom Nachbar-
garten, dessen Grenze durch einen Zaun markirt war, ragten
stattliche Bäume herüber, so dass man die Häuser nicht sah.
Im Begriff umzukehren, höre ich etwas, wie Athemzüge
eines schlafenden Menschen; und nun, ganz deutlich, ein
leiser Schrei, wie von einem schlaftrunkenen Kinde. Me-
chanisch wende ich mich nach der Richtung, aus welcher die
Töne zu kommen scheinen: wenige Schritte von mir steht
ein kleiner Holzschuppen. Als ich mich vorsichtig nähere,
finde ich hinter einem Haufen aufgeschichteter Bretter und
Geräthschaften, ganz in einer Ecke zusammengekauert, ein
Weib sitzen; auf ihrem Schooss liegt, halb unter ihrer Schürze
verborgen, ein Kind. Ihr Kopf lehnt an der Bretterwand,
Kopftuch und Haare sind rothbestäubt; ohne Zweifel ist sie
als Ziegelträgerin auf dem Bau beschäftigt. Sie hat die lose
Jacke zurückgeschlagen, so dass die eine Brust frei ist; das
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