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1896

JUGEND

Nr. 20

Auf dem See

Zeichnung von Max Eichler

Nunmehr betheiligte sich auch der
dumme Hans an der Diskussion. Er zappel-
te nämlich.

„Pst! Jeder eine!“ sagte Mama war-
nend. „Sonst esst Ihr zu Mittag nichts!“
Paul verzehrte mit aller Ruhe seine
Kastanie, und nachdem er das letzte Stäub-
chen sorgfältig ausgesaugt hatte, fragte er:
„Also sag’, Mama, wie alt bist Du?“

Die schöne Frau runzelte ein wenig
die Brauen. Aber sofort wurde sie wieder
lieb und freundlich.

„Morgen geh’ ich mit Euch auf’s Eis,
Kinder“, sagte sie, „aber wer wird mich
führen?“

„O, ich führ’ Dich ganz allein!“ ver-
sicherte Paul ein wenig geringschätzig.

„So, wirklich!?... Na...“ entgegnete
Mama und bemühte sich, ungläubig zu
lächeln.

„O ja, Mama.Aber wie alt bist Du ?“

„Sag’ Mama!“

Das Antlitz der schönen Frau ward ernst:
„Eine Dame fragt man nie nach ihrem Alter,
merk’ Dir das, Paul. — Das ist eine grosse,
grosse Ungezogenheit.“

Paul setzte sich darüber hinweg. „Du
musst mir’s sagen“, beharrte er. „Papa ist
44. Bist Du auch 44?“

„Ja!“ sagte Mama und lächelte wieder.
„Wer weiss?!“ meinte die kleine Fritzi
misstrauisch.

Das Fräulein erkannte das Gefährliche
der Lage; und rasch gefasst, sagte sie:
>,U faut parier frangais, mes cheris.“
„Oui, oui“, begann Mama, um ein Bei-
spiel zu geben.

Aber Paul war heute verwegen; er fragte:
„Eh bien, raaman, quel äge as-tu?“
Die Schöne hob ihre schönen Augen zur
Decke und seufzte ein wenig verzweifelt;
da konnte nur noch Energie helfen.

„Ich habe jetzt keine Zeit für Eure
Dummheiten“, sagte sie streng, „ich muss
jetzt wirthschaften. Lasst mich allein.“ Und
mit werkthätiger Unterstützung des Fräu-
leins schob sie die drei zur Thüre hinaus,
zuletzt Paul, der noch in der Thüre die
entschlossene Versicherung abgab:

„Du musst mir’s sagen, Mama!“

Und ein wenig wehmütig blickte sie
ihnen nach. Sie wurden älter und grösser,

alle Jahre, alle Jahre_und mit ihnen wird

auch sie älter, unaufhaltsam, unaufhaltsam.

Sie trat vor den venetianischen Putz-
spiegel und lächelte melancholisch: Un-
aufhaltsam. — Nein, wenn sie so melan-
cholisch lächelte, da war sie entzückend
schön, das kleidete sie sehr gut! und vor
Vergnügen lächelte sie gleich noch einmal
melancholisch.

Um aber den richtigen Effekt heraus-
zubringen, sprach sie dazu die Worte: „Ich

bin ja schon alt!-Ich bin ja schon

alt! — Ich bin eine alte Frau — — —!“
Ja, so machte sie Sklaven. So hatte sie im
vorigen Jahre einem jungen und schüch-
ternen Arzt geantwortet, der ihr versicherte,
er hätte noch niemals eine schönere Frau
gesehen, als sie. „Ach Gott!“ hatte sie
melancholisch geseufzt, „ich bin ja schon
alt_!“

Und derselbe schüchterne, hübsche Doc-
tor hatte ihr versichert, er kenne das Alter
einer Frau sofort, ihm gegenüber gäbe es
keine Verstellung. Da hatte sie gelächelt.
So hatte sie gelächelt, mit solch’ einem
Blick — nein, übrigens nicht so — so!
Schalkhaft und ungläubig. Ja, so.

„Nun — Herr Doctor — für wie alt hal-
ten Sie mich?“ hatte sie schelmisch gefragt.
Der schüchterne, junge Mann wurde augen-
scheinlich verlegen — das hatte sie so gerne,
wenn die jungen Männer in Verlegenheit
kamen- doch erbeharrte: „Auch bei Ihnen,
schöne Frau, bin ich meiner Sache ganz

sicher_“ „Nun, sprechen Sie!“ hatte sie

ihn ermuthigt. „Meine Gnädige“, erwiderte
er, „mein Urtheil ist nicht galant.“ „Ich
bin nicht eitel!“ versicherte sie. „Nun
denn“, wagte er schliesslich, „auf die Ge-
fahr, Ihnen zu missfallen, — Sie zählen —
Sie sind 28 Jahre alt!“ „Das ist

unheimlich!“ hatte sie gelacht, „das ist un-
heimlich. Sie sind ein gefährlicher Mensch,
Herr Doctor! — hahaha!“ Und so hatte sie
gelächelt, mit erschreckten, verwundenen
Augen, und ihre Perlenzähne gezeigt. —
Und seither ward der junge Doctor ihr
Hausarzt. — Uebrigens ein sehr netter,
junger Mann, der Herr Doctor — Das hell-
farbige Rosenbouquet, das er ihr heute ge-
schickt, und das aus 29 Rosen bestand,
war wirklich reizend! Sie hob das Bouquet

auf und näherte es ihrem rosigen Gesicht-
chen. Und dabei besah sie sich wieder im
Spiegel. Man könnte sie auch ganz leicht
für noch jünger halten. Ueberhaupt im
Profil. Mit Hilfe eines zweiten Spiegels
besah sie sich nun im Profil. Da sah sie
aus, als wäre sie zwanzigjährig. Und über-
haupt dieser Nacken und der Hals. Sie
öffnete ein wenig den Kragen, um den Hals
besser sehen zu können. Wie blendend
weiss und zart! Sie hatte nie einen schö-
neren Hals gesehen! —

Und nun lächelte sie stolz. Aber man
vergötterte sie auch, wo sie sich zeigte.
Ueberhaupt die Männer. Keiner wider-
stand ihrem Zauber. So ein Blick, oder
so ein Lächeln, und ein jeder war ihr
Sklave. Und auch der Herr Doctor, ja, ja,
der sie für 28 Jahre hielt. O, manchmal
verräth er sich, wenn er ihr den Puls fühlt,
oder wenn er ihr die Hand küsst, was er
ihr aus Schüchternheit nie einzugestehen

wagte. Und das freute sie, denn er

war ein sehr hübscher, junger Mann_

Nicht etwa, dass sie ihn liebte, — o, sie
war viel zu gut erzogen, als dass sie je in
ihrem Leben jemanden geliebt hätte! —
oder, dass sie ihm je die kleinste Gunst
gewährt hätte, oh! oh! (diese Entrüstung
steht ihr auch sehr gut). Sie ist ja eine
anständige Frau; sie war ja, Gott sei Dank,
immer in der Lage, es sein zu können, —
aber, dass ein Mann in sie verliebt sei, das
freute sie dennoch. — Und er hält sie für
28 Jahre, ha — Ha —, und ist noch stolz
auf seinen Kennerblick!

Ja, wenn er wüsste, wie alt sein Ideal
in Wahrheit ist, der gute Doctor; — wenn
sie so eines Augenblicks vor ihn hinträte
und spräche: Ja, mein lieber junger Doctor,
wissen Sie, wie alt ich wirklich bin, ich,
diese schöne, schlanke Frau, mit den
schwarzen, heissen Augen, mit den blut-
rothen Lippen, mit den rosigen Wangen
und der weissen Stirn — wissen Sie, Herr
Doctor, dass ich eine alte Frau bin — ja
eine alte Frau —, dass ich heute 34 Jahre
bin! Jawohl — 34 Jahre.

Und in bester Laune lächelte sie traurig
und träumerisch in den Spiegel, und wieder-
holte mit einem tiefen Seufzer ganz laut:
Jawohl, ich bin heut’ 34 Jahre!

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Reinhold Max Eichler: Auf dem See
 
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