1896
JUGEND
Nr. 20
ON langem Wandern müde kehrt ich heim,
Den Berg hinab den Weg in’s Thal ver-
folgend.
Am fernen Waldsaum ging die Sonne unter,
Das Aveläuten grösste fromm herüber;
Die Bergesspitzen glühten auf, die Ferne
War dämmerhaft in tiefes Blau gehüllt,
Und hell darüber stand der Abendstern.
In tiefen Träumen schritt ich lange fort.
Die friedevolle wundersame Schönheit
Hielt allgewaltig mir das Herz umfangen.—
Da raschelt’s neben mir; ich wende mich
Und seh’ am Felsen angelehnt ein
Kirchlein
Mit festverschloss’ner Thür. Ich blick’
hinein
Und bleib’ verwundert stehen — welch
ein Bild!
In wirrer Unordnung Geräth und Bänke,
Die Decke eingestürzt und durch der
Fenster
Zerbroch’ne Scheiben zieht der Abendwind
Durch den zerfall’nen Raum und raschelt
leise
In den papier’nen Rosen auf dem Haupt
Der Muttergottes.
Mit weit offnen Augen
So schaute sie auf mich, gross und
erschreckt;
Auf ihrem Schoosse lag das Christuskind,
Das sie wie schützend hielt. Ihr Blick
traf mich /
So trostlos klagend, grad als wollte sie
Mich fragen: „Wo sind all’ die Menschen,
Die hier gekniet und heiss gebetet haben,
Bin ich denn nicht mehr ihre Mutter-
gottes ?“
— Ich pflückte Blumen, die am Wege
standen,
Doch da durchfuhr’s mich: kannst ja
nicht hinein.
Noch trauriger sie blickte als zuvor,
Die Schatten huschten trüber durch den
Raum,
Gezeichnet von C. Bösenroth.
V9
JUGEND
Nr. 20
ON langem Wandern müde kehrt ich heim,
Den Berg hinab den Weg in’s Thal ver-
folgend.
Am fernen Waldsaum ging die Sonne unter,
Das Aveläuten grösste fromm herüber;
Die Bergesspitzen glühten auf, die Ferne
War dämmerhaft in tiefes Blau gehüllt,
Und hell darüber stand der Abendstern.
In tiefen Träumen schritt ich lange fort.
Die friedevolle wundersame Schönheit
Hielt allgewaltig mir das Herz umfangen.—
Da raschelt’s neben mir; ich wende mich
Und seh’ am Felsen angelehnt ein
Kirchlein
Mit festverschloss’ner Thür. Ich blick’
hinein
Und bleib’ verwundert stehen — welch
ein Bild!
In wirrer Unordnung Geräth und Bänke,
Die Decke eingestürzt und durch der
Fenster
Zerbroch’ne Scheiben zieht der Abendwind
Durch den zerfall’nen Raum und raschelt
leise
In den papier’nen Rosen auf dem Haupt
Der Muttergottes.
Mit weit offnen Augen
So schaute sie auf mich, gross und
erschreckt;
Auf ihrem Schoosse lag das Christuskind,
Das sie wie schützend hielt. Ihr Blick
traf mich /
So trostlos klagend, grad als wollte sie
Mich fragen: „Wo sind all’ die Menschen,
Die hier gekniet und heiss gebetet haben,
Bin ich denn nicht mehr ihre Mutter-
gottes ?“
— Ich pflückte Blumen, die am Wege
standen,
Doch da durchfuhr’s mich: kannst ja
nicht hinein.
Noch trauriger sie blickte als zuvor,
Die Schatten huschten trüber durch den
Raum,
Gezeichnet von C. Bösenroth.
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