Nr. 24
1896
An eine Berlinerin
• bei ihrer Heimkehr aus Italien
I.
In staubige gedrückte Räume,
Wo keuchend sich die Paare dreh’n,
Kehrst Du zurück vom Land der
Träume,
Vom Glanz, den Du als Kind
geseh’n.
Zwar sind die Menschen hier
sehr h eile
Und sprichst Du von der Schönheit
Land,
So wissen sie genau die Stelle,
Wo jeder alte Torso stand.
Es sprühen ihre Geistesfunken
Beim Contretanze und bei Tisch,
Und wenn sie etwas Sekt getrunken—
Dann werden sie noch
schwärmerisch.
O selig, so vereint zu schwärmen
Und selbst umschwärmt vom Militär!
Kasernen — Caracallathermen —
O Mädchenherz, was willst Du mehr?
II.
Ich will Dir nicht die Freude rauben,
Geh’ in die Welt und mache Glück
So lang die Mittel es erlauben!
Dann kehre von den Pickelhauben
Zur «Schule von Athen» zurück!
Wie himmlisch, dann in Abend-
stunden
Durch Säulengänge hinzugeh’n
Und, wenn der Jugend Drang ent-
schwunden,
Was man zu stürmisch einst
empfunden,
Vergeistigt dann vor sich zu seh’n!
Und untertags im Sonnenbrände
Sanft durch die Gallerie zu zieh’n
Mit einem dicken Leinwandbande,
Den Du in Deinem Vaterlande
Von einer Freundin ausgelieh’n!
Ich seh’ Dich im Kostüm von Loden
Vor Venus steh’n im Vatikan
Im Zeugschuh auf dem Marmor-
boden
Und Verse lispeln, Sapph’sche Oden,
Wenn Dir der Gott cs angethan.
Und erst die Bilder und die Skizzen
Und was man vor der Welt versteckt,
Ute Tagebücher und Notizen — !
Doch fort jetzt mit den schlechten
Witzen,
Ou weisst ja, Engel: Was sich
neckt — — —
FERDINAND VON HORNSTEIN.
Der Kuss'
(Nach Fratifois Coppee.)
Ich war nicht oft beglückt auf dieser
Erde,
Doch pflückte ich als lieblichen Ge-
nuss
Von manchen Lippen einen süssen
Kuss,
Der mir das trübe Dasein hold ver-
klärte.
Der Reiz des Kusses war mir auf-
gegangen,
Als Kind schon in der Mutter treuem
Arm,
Mein kleines Herz ward dabei froh
und warm.
Man küsste damals immer meine
Wangen.
Die Kindheit sch wand; mein Weg ging
über Klippen
Und streifte selbst den dunklen Ab-
grund oft,
Doch mich erquickte manchmal un-
verhofft
Ein Kuss von süssen heissersehnten
Lippen.
Ich ward geküsst in schönen Jugend-
tagen
Von manchem Weib in flücht’gem
Liebesbund,
Man küsste damals immer meinen
Mund
In heisser Lust, in Thränen und in
Zagen.
Vorüber ist die holde Zeit der Rosen,
Vorüber ohne Trostund Wiederkehr.
Es küsst schon lange niemand, nie-
mand mehr
Auf Mund und Wange mich in süs-
sem Kosen.
Mich überlebt kein Sprosse und ich
frage
Mich wehmuthsvoll, seitdem die
Liebe schwand,
Wenn mich der Tod erfasst mit kalter
Hand,
Wer küsst die Stirne mir am letzten
Tage?
N. GÜTHNER.
DL
Märchen
Die Mittagsonne brütet heiss,
Im Trahme liegt der Wald,
Ein Glockenton erzittert leis,
Der mählig dann verhallt;
Und wunderklare blaue Luft
Rings über Feld und Heide,
Und würzig schwerer Sommerduft
Vom reifenden Getreide;
Und Bienen, Käfer, glänzend bunt,
Das surrt und summt ganz leise,
Im Schatten schläft der Schäferhund,
Im Riedgras zirpt die Meise;
Am Waldbach träumt das Hüterkind
Von Liebeslust und Qual,
Und märchenheimlich rauntderWind
Es war — Es war einmal ....
PAUL DL1SS.
J8l
1896
An eine Berlinerin
• bei ihrer Heimkehr aus Italien
I.
In staubige gedrückte Räume,
Wo keuchend sich die Paare dreh’n,
Kehrst Du zurück vom Land der
Träume,
Vom Glanz, den Du als Kind
geseh’n.
Zwar sind die Menschen hier
sehr h eile
Und sprichst Du von der Schönheit
Land,
So wissen sie genau die Stelle,
Wo jeder alte Torso stand.
Es sprühen ihre Geistesfunken
Beim Contretanze und bei Tisch,
Und wenn sie etwas Sekt getrunken—
Dann werden sie noch
schwärmerisch.
O selig, so vereint zu schwärmen
Und selbst umschwärmt vom Militär!
Kasernen — Caracallathermen —
O Mädchenherz, was willst Du mehr?
II.
Ich will Dir nicht die Freude rauben,
Geh’ in die Welt und mache Glück
So lang die Mittel es erlauben!
Dann kehre von den Pickelhauben
Zur «Schule von Athen» zurück!
Wie himmlisch, dann in Abend-
stunden
Durch Säulengänge hinzugeh’n
Und, wenn der Jugend Drang ent-
schwunden,
Was man zu stürmisch einst
empfunden,
Vergeistigt dann vor sich zu seh’n!
Und untertags im Sonnenbrände
Sanft durch die Gallerie zu zieh’n
Mit einem dicken Leinwandbande,
Den Du in Deinem Vaterlande
Von einer Freundin ausgelieh’n!
Ich seh’ Dich im Kostüm von Loden
Vor Venus steh’n im Vatikan
Im Zeugschuh auf dem Marmor-
boden
Und Verse lispeln, Sapph’sche Oden,
Wenn Dir der Gott cs angethan.
Und erst die Bilder und die Skizzen
Und was man vor der Welt versteckt,
Ute Tagebücher und Notizen — !
Doch fort jetzt mit den schlechten
Witzen,
Ou weisst ja, Engel: Was sich
neckt — — —
FERDINAND VON HORNSTEIN.
Der Kuss'
(Nach Fratifois Coppee.)
Ich war nicht oft beglückt auf dieser
Erde,
Doch pflückte ich als lieblichen Ge-
nuss
Von manchen Lippen einen süssen
Kuss,
Der mir das trübe Dasein hold ver-
klärte.
Der Reiz des Kusses war mir auf-
gegangen,
Als Kind schon in der Mutter treuem
Arm,
Mein kleines Herz ward dabei froh
und warm.
Man küsste damals immer meine
Wangen.
Die Kindheit sch wand; mein Weg ging
über Klippen
Und streifte selbst den dunklen Ab-
grund oft,
Doch mich erquickte manchmal un-
verhofft
Ein Kuss von süssen heissersehnten
Lippen.
Ich ward geküsst in schönen Jugend-
tagen
Von manchem Weib in flücht’gem
Liebesbund,
Man küsste damals immer meinen
Mund
In heisser Lust, in Thränen und in
Zagen.
Vorüber ist die holde Zeit der Rosen,
Vorüber ohne Trostund Wiederkehr.
Es küsst schon lange niemand, nie-
mand mehr
Auf Mund und Wange mich in süs-
sem Kosen.
Mich überlebt kein Sprosse und ich
frage
Mich wehmuthsvoll, seitdem die
Liebe schwand,
Wenn mich der Tod erfasst mit kalter
Hand,
Wer küsst die Stirne mir am letzten
Tage?
N. GÜTHNER.
DL
Märchen
Die Mittagsonne brütet heiss,
Im Trahme liegt der Wald,
Ein Glockenton erzittert leis,
Der mählig dann verhallt;
Und wunderklare blaue Luft
Rings über Feld und Heide,
Und würzig schwerer Sommerduft
Vom reifenden Getreide;
Und Bienen, Käfer, glänzend bunt,
Das surrt und summt ganz leise,
Im Schatten schläft der Schäferhund,
Im Riedgras zirpt die Meise;
Am Waldbach träumt das Hüterkind
Von Liebeslust und Qual,
Und märchenheimlich rauntderWind
Es war — Es war einmal ....
PAUL DL1SS.
J8l