Nr. 24
JUGEND
1896
Ein Marskünstler „alter“ Richtung.-
Ein Brief aus dem Mars
Vielleicht erinnert sich der freundliche
Leser an unsern Bericht aus Nummer 17
dieses Blattes, worin von einer Corre-
spondenz mit den Marsbewohnern die
Rede war. Wir sandten das Projektil in-
zwischen mit einem Exemplar des steno-
graphischen Berichtes über die bayerischen
Kammerverhandlungen, einer Beschreib-
ung der Friedensfeier in München und
ähnlichen Curiositäten abermals in den
Mars, und gestern lieferte uns der Land-
mann Aloysius Hinterhupfer aus Unter-
haching bei München wie damals das Ge-
schoss wieder ab, das uns die Marsbe-
wohner zurückgeschickt hatten.
Es enthielt:
einen Brief,
einige Photographien, die wir „um-
gezeichnet“ wiedergeben,
wieder ein Strafmandat und zwar
dieses Mal wegen Schiessens ohne Jagd-
karte.*)
Der Brief lautete:
Verehrliche Redaktion!
Sie werden Ihr Geschoss dieses Mal
in etwas defektem Zustand Wiedersehen,
mit abgeplatteter Spitze. Doch das ist
nicht unsere Schuld. Als die Spitzkugel
auf dem Mars eintraf, fiel sie zufällig einem
der angesehensten Marsen, dem Präses
unserer parlamentarischen Kunstkommis-
sion, Herrn Krautkopf, auf den Kopf. Da-
durch wurde das Geschoss deformirt und
wir bitten, uns die Sache nicht falsch aus-
zulegen. Dem Kopf des Herrn Präses hat
es weiter nichts geschadet, aber der Schlag
war so stark, dass der Herr — Plattfüsse
bekam.
Das führt mich zu dem eigentlichen
Thema dieses Briefes. Da Ihr Blatt, wie
ich sehe, sich viel oder hauptsächlich mit
Kunst beschäftigt, interessiren Sie gewiss
unsere hochentwickelten Kunstverhältnisse
in erster Linie.
*) Wir finden das, um uns stark auszudrücken, ein
wenig sonderbar, da wir nicht auf dem, sondern auf den
Mars geschossen haben. (D. R.)
Die disciplinlose Malerei, wie sie auf
der Erde gepflegt zu werden scheint, gibt
es auf dem Mars nicht. Bei uns wird die
jeweilige Kunstrichtung durch das Parla-
ment geregelt und es erlaubt sich kein
Marskünstler so einfach nach Belieben
seinem eigenen beschränkten Unterthanen-
verstand nachzumalen. An der Spitze des
ganzen Kunstwesens steht eine dreiglieder-
ige Kunstkommission, die aus den Mit-
gliedern des Marsparlamentes auserlesen
wird. Originell wie jeder Wahlmodus auf
unserem auserwählten Gestirn ist auch
die Wahl des Parlamentes und der be-
treffenden Kunstkommission. Das Erstere
wird aus jenen Marsbewohnern zusammen-
gestellt, welche auf ihren Aeckern die
grössten Kartoffeln haben — gegen-
wärtig ist bekanntlich das Centrum in
starker Majorität. Von den Parlamentariern
wird nun wieder ein Kleeblatt auserlesen:
diejenigen Herren, welche die drei dick-
sten Köpfe besitzen. Und der Besitzer
des dicksten Kopfes von diesen Dreien
wiederum wird Präsident der Kommission
— das ist der Mann, an dessen Schädel Ihre
verehrliche Spitzkugel sich plattdrückte.
Dieser Rath der Drei — wir schicken
Ihnen seine Photographie — bestimmt nach
seinem eigenen Geschmack die jeweilig
„herrschen zu habende“ Kunstrichtung, er-
nennt die Akademieprofessoren, nicht wie
es bei Ihnen stellenweise üblich sein soll,
nach sogenanntem Talent u. s. w., sondern
nach der Qualifikation des betreffenden
Stadtpfarrers. Demnächst soll ein Marse,
der es in einem Jahre auf 4876 Beicht-
zettel gebracht hat, Akademiedirektor wer-
den für den derzeitigen Vertreter dieses
Amtes, der nur 365 aufweisen konnte.
Von der Kunstkommission werden auch
die Kunstkritiken verfasst und verviel-
fältigt an die Zeitungen hinausgegeben,
die Bilder in den Ausstellungen gehängt
und prämiirt, die Ankäufe für die Staats-
sammlungen gemacht. Bei allen diesen
Werthungen ist natürlich das Leumunds-
zeugniss und der Gesinnungstüchtigkeits-
nachweis allein massgebend. Von einem
Künstler, der das Glück hat, gleichzeitig
Vetter, Tauf- und Firmpathe je eines der
drei Kommissionsmitglieder zu sein, be-
sitzt unsere National-Galerie allein viele
hundert Bilder.
Unsere Kunstakademie ist einfach gross-
artig mit allen Chikanen der Neuzeit ein-
gerichtet. Eine beigelegte Momentaufnahme
zeigt Ihnen den Anblick eines „Meister-
ateliers“. Der Meister sitzt in der Mitte
und „malt vor“ und mit seiner Hand sind
durch elektrische Drähte die Hände der
Schüler verbunden, so dass Letztere ge-
zwungen sind, jede Bewegung der Meister-
hand mathematisch genau nachzumachen.
Die Farben werden durch Commando’s
bestimmt, so dass man z. B. aus dem
Munde des Lehrers die Ordre vernimmt:
«Ganzes Atelier Lichtocker undKremser-
weiss!“ oder
«Ganzes Atelier Asphaltlasur mit Sicca-
tiv de Courtray!“
Es ist grossartig, was durch diese Me-
thode bei den Schülern erreicht wird! Schon
nach wenigen Wochen sind sie dem Meister
ebenbürtig — selbst die Talentlosesten —
und andererseits kommt auch der wider-
wärtige und die Disziplin so schwer schädig-
ende Fall, dass ein Schüler besser malt, wie
sein Lehrer, bei uns nie vor. Ueberhaupt
ist bei uns, Gott sei Dank, mit den soge-
nannten Talenten, deren Vorhandensein
auf der Erde so viel Wirrniss in die Kunst-
verhältnisse bringt, schon lange gründlich
aufgeräumt. Wer Talent hat, der hütet sich
wohl, Künstler zu werden, denn die Dis-
ziplinarstrafen für Zuwiderhandeln gegen
den oben „herrschenden“ Kunstgeschmack
sind sehr streng. Neulich musste ein hart-
näckiger, rückfälliger Pleinairist fünfzigmal
den grossen, figurenreichen van der Werff
unserer National-Galerie copiren. Der Mann
ist gründlich bekehrt und wird jetzt mit
Stolz der Nathan Sichel des Mars genannt.
Aktmalen und-Zeichnen gibt es hierna-
türlich nicht. Weiter fortgeschrittene Aka-
demiker studiren im Modellsaal die Gips-
köpfe unserer Kammermajorität. Ob der
Künstler nun später Thier- oder Historien-
maler wird, hier geniesst er die richtige
Vorbildung.
In den Ausstellungen werden alle Nu-
ditäten in besonderen Kammern unterge-
bracht, deren Zugang durch Vorlege-
schlösser, Riegel und Selbstschüsse wohl
verwahrt ist. Die Kammern haben nur
versteckte Hinterpförtchen für die Herren
von der Commission und ihre Parteigenos-
sen, die hin und wieder einige Stunden
dort zubringen, um durch tiefgehende Ent-
rüstung ihr Sittlichkeitsgefühl zu stärken.
Einige der Herrn verbringen den halben
Tag in diesen Räumen, trotzdem solche
für sie förmliche Schreckenskammern sein
müssen. Man glaubt nicht, was ein Mars-
bewohner der Moral zu Liebe Alles aus-
halten kann!
Die Bilder werden, wie gesagt, in den
Ausstellungen je nach dem Führungsattest,
das der betreffende Künstler aufzuweisen
hat, gehängt. In den Ehrensaal kommen
die Kegelbrüder 8. M. König Jockels des
Achtzehnten, an die Rampe der übrigen
Säle die Künstler, die nachweislich einer
frommen Brüderschaft angehören u. s. w.
Bilder von Künstlern, die im Verdachte
Ein Marskünstler von den ,Ultramodernen‘.
53z
JUGEND
1896
Ein Marskünstler „alter“ Richtung.-
Ein Brief aus dem Mars
Vielleicht erinnert sich der freundliche
Leser an unsern Bericht aus Nummer 17
dieses Blattes, worin von einer Corre-
spondenz mit den Marsbewohnern die
Rede war. Wir sandten das Projektil in-
zwischen mit einem Exemplar des steno-
graphischen Berichtes über die bayerischen
Kammerverhandlungen, einer Beschreib-
ung der Friedensfeier in München und
ähnlichen Curiositäten abermals in den
Mars, und gestern lieferte uns der Land-
mann Aloysius Hinterhupfer aus Unter-
haching bei München wie damals das Ge-
schoss wieder ab, das uns die Marsbe-
wohner zurückgeschickt hatten.
Es enthielt:
einen Brief,
einige Photographien, die wir „um-
gezeichnet“ wiedergeben,
wieder ein Strafmandat und zwar
dieses Mal wegen Schiessens ohne Jagd-
karte.*)
Der Brief lautete:
Verehrliche Redaktion!
Sie werden Ihr Geschoss dieses Mal
in etwas defektem Zustand Wiedersehen,
mit abgeplatteter Spitze. Doch das ist
nicht unsere Schuld. Als die Spitzkugel
auf dem Mars eintraf, fiel sie zufällig einem
der angesehensten Marsen, dem Präses
unserer parlamentarischen Kunstkommis-
sion, Herrn Krautkopf, auf den Kopf. Da-
durch wurde das Geschoss deformirt und
wir bitten, uns die Sache nicht falsch aus-
zulegen. Dem Kopf des Herrn Präses hat
es weiter nichts geschadet, aber der Schlag
war so stark, dass der Herr — Plattfüsse
bekam.
Das führt mich zu dem eigentlichen
Thema dieses Briefes. Da Ihr Blatt, wie
ich sehe, sich viel oder hauptsächlich mit
Kunst beschäftigt, interessiren Sie gewiss
unsere hochentwickelten Kunstverhältnisse
in erster Linie.
*) Wir finden das, um uns stark auszudrücken, ein
wenig sonderbar, da wir nicht auf dem, sondern auf den
Mars geschossen haben. (D. R.)
Die disciplinlose Malerei, wie sie auf
der Erde gepflegt zu werden scheint, gibt
es auf dem Mars nicht. Bei uns wird die
jeweilige Kunstrichtung durch das Parla-
ment geregelt und es erlaubt sich kein
Marskünstler so einfach nach Belieben
seinem eigenen beschränkten Unterthanen-
verstand nachzumalen. An der Spitze des
ganzen Kunstwesens steht eine dreiglieder-
ige Kunstkommission, die aus den Mit-
gliedern des Marsparlamentes auserlesen
wird. Originell wie jeder Wahlmodus auf
unserem auserwählten Gestirn ist auch
die Wahl des Parlamentes und der be-
treffenden Kunstkommission. Das Erstere
wird aus jenen Marsbewohnern zusammen-
gestellt, welche auf ihren Aeckern die
grössten Kartoffeln haben — gegen-
wärtig ist bekanntlich das Centrum in
starker Majorität. Von den Parlamentariern
wird nun wieder ein Kleeblatt auserlesen:
diejenigen Herren, welche die drei dick-
sten Köpfe besitzen. Und der Besitzer
des dicksten Kopfes von diesen Dreien
wiederum wird Präsident der Kommission
— das ist der Mann, an dessen Schädel Ihre
verehrliche Spitzkugel sich plattdrückte.
Dieser Rath der Drei — wir schicken
Ihnen seine Photographie — bestimmt nach
seinem eigenen Geschmack die jeweilig
„herrschen zu habende“ Kunstrichtung, er-
nennt die Akademieprofessoren, nicht wie
es bei Ihnen stellenweise üblich sein soll,
nach sogenanntem Talent u. s. w., sondern
nach der Qualifikation des betreffenden
Stadtpfarrers. Demnächst soll ein Marse,
der es in einem Jahre auf 4876 Beicht-
zettel gebracht hat, Akademiedirektor wer-
den für den derzeitigen Vertreter dieses
Amtes, der nur 365 aufweisen konnte.
Von der Kunstkommission werden auch
die Kunstkritiken verfasst und verviel-
fältigt an die Zeitungen hinausgegeben,
die Bilder in den Ausstellungen gehängt
und prämiirt, die Ankäufe für die Staats-
sammlungen gemacht. Bei allen diesen
Werthungen ist natürlich das Leumunds-
zeugniss und der Gesinnungstüchtigkeits-
nachweis allein massgebend. Von einem
Künstler, der das Glück hat, gleichzeitig
Vetter, Tauf- und Firmpathe je eines der
drei Kommissionsmitglieder zu sein, be-
sitzt unsere National-Galerie allein viele
hundert Bilder.
Unsere Kunstakademie ist einfach gross-
artig mit allen Chikanen der Neuzeit ein-
gerichtet. Eine beigelegte Momentaufnahme
zeigt Ihnen den Anblick eines „Meister-
ateliers“. Der Meister sitzt in der Mitte
und „malt vor“ und mit seiner Hand sind
durch elektrische Drähte die Hände der
Schüler verbunden, so dass Letztere ge-
zwungen sind, jede Bewegung der Meister-
hand mathematisch genau nachzumachen.
Die Farben werden durch Commando’s
bestimmt, so dass man z. B. aus dem
Munde des Lehrers die Ordre vernimmt:
«Ganzes Atelier Lichtocker undKremser-
weiss!“ oder
«Ganzes Atelier Asphaltlasur mit Sicca-
tiv de Courtray!“
Es ist grossartig, was durch diese Me-
thode bei den Schülern erreicht wird! Schon
nach wenigen Wochen sind sie dem Meister
ebenbürtig — selbst die Talentlosesten —
und andererseits kommt auch der wider-
wärtige und die Disziplin so schwer schädig-
ende Fall, dass ein Schüler besser malt, wie
sein Lehrer, bei uns nie vor. Ueberhaupt
ist bei uns, Gott sei Dank, mit den soge-
nannten Talenten, deren Vorhandensein
auf der Erde so viel Wirrniss in die Kunst-
verhältnisse bringt, schon lange gründlich
aufgeräumt. Wer Talent hat, der hütet sich
wohl, Künstler zu werden, denn die Dis-
ziplinarstrafen für Zuwiderhandeln gegen
den oben „herrschenden“ Kunstgeschmack
sind sehr streng. Neulich musste ein hart-
näckiger, rückfälliger Pleinairist fünfzigmal
den grossen, figurenreichen van der Werff
unserer National-Galerie copiren. Der Mann
ist gründlich bekehrt und wird jetzt mit
Stolz der Nathan Sichel des Mars genannt.
Aktmalen und-Zeichnen gibt es hierna-
türlich nicht. Weiter fortgeschrittene Aka-
demiker studiren im Modellsaal die Gips-
köpfe unserer Kammermajorität. Ob der
Künstler nun später Thier- oder Historien-
maler wird, hier geniesst er die richtige
Vorbildung.
In den Ausstellungen werden alle Nu-
ditäten in besonderen Kammern unterge-
bracht, deren Zugang durch Vorlege-
schlösser, Riegel und Selbstschüsse wohl
verwahrt ist. Die Kammern haben nur
versteckte Hinterpförtchen für die Herren
von der Commission und ihre Parteigenos-
sen, die hin und wieder einige Stunden
dort zubringen, um durch tiefgehende Ent-
rüstung ihr Sittlichkeitsgefühl zu stärken.
Einige der Herrn verbringen den halben
Tag in diesen Räumen, trotzdem solche
für sie förmliche Schreckenskammern sein
müssen. Man glaubt nicht, was ein Mars-
bewohner der Moral zu Liebe Alles aus-
halten kann!
Die Bilder werden, wie gesagt, in den
Ausstellungen je nach dem Führungsattest,
das der betreffende Künstler aufzuweisen
hat, gehängt. In den Ehrensaal kommen
die Kegelbrüder 8. M. König Jockels des
Achtzehnten, an die Rampe der übrigen
Säle die Künstler, die nachweislich einer
frommen Brüderschaft angehören u. s. w.
Bilder von Künstlern, die im Verdachte
Ein Marskünstler von den ,Ultramodernen‘.
53z