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Nr. 25

JUGEND

18S6

die weite Welt! .... Mein Kopf glühte.Unser Zug

näherte sich der Station Mainz und wir bereiteten uns zum
Aussteigen vor.

„Ich habe auch einen Geschäftsfreund in der Bahnhofs-
halle zu erwarten“, warf ich gesprächsweise hin.

„Dann können Sie uns ja noch Gesellschaft leisten.“
Mit diesen Worten kam sie mir zu Hilfe und blickte mich
vielsagend an.

„Mit Vergnügen“, sagte ich mit bebender Stimme, während
wir das Coupe verliessen und dem Wartesaal zuschritten.
Meinen neuen Regenschirm hatte ich glücklich liegen lassen,
aber ich hütete mich, davon zu reden, denn jetzt musste ich
dem himmlischen Weibe nahebleiben und keine Sekunde
ungenützt verstreichen lassen. Müller musste ohnedies zum
Schalter, um die Karten abstempeln zu lassen, wie er an-
kündigte, und da konnten wir Zeit gewinnen, um über unser
zukünftiges Leben schlüssig zu werden. Er war auch kaum
zur Thüre hinaus, als sie ihr Händchen auf meinen Arm
legte und mich innig anblickte.

Ich hätte vor ihr niederknien können!

„Sprechen Sie!“ drängte ich ungestüm und verschlang
sie förmlich mit meinen Blicken.

„Ich will nicht lange Worte machen“, flüsterte sie und
ihr Athem streifte meine Wange, so nahe war sie mir —
„nächste Woche hat Fränzchen Geburtstag.“

„Fränzchen!“ wiederholte ich erstaunt.

„Nu ja, mein Mann .... und da dachte ich, Sie könnten
mir wohl den kleinen Meyer recht billig verschaffen — mein
Mann ist so sehr für die Bildung!“

„Was!“ rief ich übermässig laut und starrte sie mit
grossen Augen an.

„Sie wollen wohl nicht, ’s ist Ihnen wegen der Provision?“
meinte sie sichtlich betrübt und enttäuscht.

Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Die Arme sanken
mir herab und wie ernüchtert aus berauschtem Zustand
glotzte ich vor mich hin.

„Das wollten Sie mir also sagen“, murmelte ich tonlos
„Ja, was glaubten Sie denn?“ — meinte sie piquirt. —
„Nein, nein, ich glaubte gar nichts“ — stotterte ich. ,—
„Und was den kleinen Meyer anbelangt, den werde ich Ihnen
mit Vergnügen zum Selbstkostenpreise überlassen, meine
Gnädige . . .“

„Ach, wie nett von Ihnen!“ rief sie . . .

Eben kam Müller mit den abgestempelten Karten zurück
und meinte: „Wollen wir nicht ’ne Kleinigkeit gemessen?“
„Ja, ich dachte auch daran,“ flötete sie, ging an’s Buffet
und kam mit zwei Buttersemmeln zurück.

„Nee, wie dünn sie das für zwanzig Pfennige drauf
schmieren“ — sprach sie nachdenklich und ihre feucht-
schimmernden Blicke ruhten lange auf den beiden Brodelten
. . . just so verheissend und vielsagend, wie sie auf mir
geruht hatten . . .

Zeichnung von R. Wilke
Register
Rudolf Wilke: Dicke Liebe
 
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