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Nr. 26

JUGEND

1896

k

Gezeichnet von K. Kneiss.

All Heil!

Die Welt stellt im Zeichen des Zwei-
rads! Es ist ein Massenwahnsinn ohne
Gleichen über die Menschen gekommen.

Man hat gewiss im Laufe der Jahr-
hunderte schon die herrlichsten Dinge an
epidemischer Unvernunft erlebt: dieVölker-
wanderungen, die Kreuzzüge, die Inqui-
sition und die Hexenprozesse, die Gold-
macherei,dieAllongeperrücken, die Geissel-
prozessionen, das Cri-Cri, das Volapük,
die „Cavalleria-Rusticana“, die Amateur-
photographie, die Schinkenärmel, den Spiri-
tismus, die Holzbrandmalerei, das Brief-
markensammeln, den General Boulanger,
den Schunkelwalzer und Ta-ra-ra-bum-diäh,
man hat sich den glorreichsten Verrückt-
heiten hingegeben, aber so allgemein hat
doch noch keine um sich gegriffen, wie
das Radeln.

Fragt man heute einen Menschen —
Mann oder Weib — zwischen 10 und 95
Jahren, ob er Zweirad fahre, so bekommt
man zur Antwort: „Natürlich!“ Nicht ein-
mal „Ja!“ — sondern „Natürlich!“ Es gibt
aber schon Leute, welche diese Frage ebenso
übelnehmen würden, wie die, ob sie lesen
könnten, oder ob sie in dem Besitze der
bürgerlichen Ehrenrechte seien.

Wie lange noch? Dann entsteht eines
schönen Tages in den Strassen irgend einer
Stadt ein kolossaler Auflauf. Man läuft an
die Fenster, man steigt auf die Ecksteine,
man drückt Auslagenscheiben ein, man
klettert auf die Laternen, man zischelt,
lacht, ruft, deutet! Zu einem Brausen
wachsen die Stimmen an... Was denn?
Dort — drüben auf dem Trottoire —

Richtig dort schleicht er hin mit nieder-
geschlagenen Augen, ängstlich und voll
Scham, wie einer der mit halbgeschornem
Kopf frisch aus dem Bagno kommt, wie
ein schuldbewusstes Gigerl, das bemerkt
hat, dass es ohne Hemdkragen aus dem
Hause gegangen ist! Da schleicht er hin,
als wär’ er plötzlich splitternackt vor den
Augen eines verehrten Publikums — ge-
drückt, blass oder roth in seines Nichts
durchbohrendem Gefühle —

Der letzte Fussgänger!

Für heute mag diese Momentaufnahme
noch wie eine kleine Uebertreibung aus-
sehen; aber wartet nur — in drei Jahren!
Heute sind die Leute, die nicht auf dem
Zweirad fahren, schon schneller gezählt,
als die, welche radeln. Die Sache wird
vorläufig überhaupt nur dadurch einen Still-
stand erfahren, dass die Händler keine
Maschinen mehr zu verkaufen haben. Es
kann Einem heute schon passiren, dass er
vor den Fahrradhändler mit dem Wunsche
tritt: „Ich möchte ein Zweirad haben“, und
dass ihm dieser schnöde zur Antwort gibt:
„Ja! das glaub’ ich — .ich auch!“

Wer fährt heute nicht? Ausser den
Kranken und Invaliden etwa noch der
höhere Klerus vom „geistlichen Rath“ und
Superintendenten aufwärts, ein paar Men-
schen von mehr als zweihundert Kilo Ge-
wicht, für die sich eine tragfähige Maschine
nicht bauen lässt, Stiftsdamen, Leichen-
frauen und solche Vertreterinnen des schö-
nen Geschlechtes, deren Schuhnummer
über 56 hinaufreicht. Aber sonst fährt so
ziemlich Alles, der-sorgenvolle Kaufmann,
der leichtgeschürzte Pilger, der andächtige
Mönch, der düstre Räuber und der heitre

Spielmann, der Dienst- und Schutzmann
der Backfisch und die Eierfrau, der Kamin-
feger, der Lieutenant, der General, die Naive
und die Heldenmutter, der Weinreisende
und der lyrische Dichter, die hohe Finanz
und der Bruder Straubinger, die professio-
nelle Schönheit und die züchtige Familien-
mutter— diese nur mit kleinen, etwa halb-
jährigen Unterbrechungen, der Droschken-
kutscher sobald er dienstfrei ist, derStaats-
anwalt, der Advokat und der Berufsgauner,
der letztere sogar mit ganz besonderer ziel-
bewusster Vorliebe.

Es wäre ein Thema, würdig einer Doktor-
dissertation, die Gründe darzulegen,welche
die sündfluthartige Ausbreitung des Rad-
fahrens veranlassten.

Da ist erstens der Nachahmungstrieb,
den der Mensch nach den bekannten Grund-
sätzen für die Entwicklung der Arten nicht
gestohlen hat und der bei allen andern
epidemisch auftretenden Liebhabereien ja
auch immer in erster Linie massgebend
gewesen ist.

Dann die liebe Eitelkeit, sehr stark be-
stimmend für Frauen und Männer. Für die
Ersteren erschliesst das Radeln ein ganz
neues Toilettengebiet, es leiht den von der
Natur hiezu Begnadeten Gelegenheit, in
durchaus ehrbarer Weise Reize zu ent-
hüllen, die sonst ängstlich unter den Falten
des Glockenrockes verborgen bleiben, es
ist überhaupt ein neues wirksames Mittel,
„gesehen zu werden“ und es gibt schliess-
lich wieder einmal eine prächtige Veran-
lassung, den Herren der Schöpfung zu
zeigen, dass sie Nichts für sich allein haben
sollen. Ein besonders schneidiger Haudegen
des Frauenemancipationsheeres hat das

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Bob: All Heil!
Emil Kneiss (Kneisz, Kneiß): Radfahrer
 
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