Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 27 (4. Juli 1896)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0011
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 27

JUGEND

1896

hat die im Leib, Kinder! Macht Euch doch mal 'ran, wenn
Ihr Courage dazu habt!“

Die Sache war ihm bereits unbehaglich geworden. Ge-
legentlich fielen Ausdrücke wie: „Das war ein schlechter
Scherz, den ich da gemacht habe“ — oder „so weit hätt’
es nicht kommen dürfen.“

Er ging seltener in den Rodensteiner wie gewöhnlich,
Mathilde wurde von ihm mit ausgesuchter Grobheit behandelt,
alles Gründe, um sie nur noch verrückter zu machen. Wenn
sie Ausgang hatte, so marschirte sie stundenlang vor Hart-
wig's Fenstern auf und ab. Das verbat er sich, aber es half
nichts.

Eines schönen Abends sitzt der Hans allein in seiner
Bude und bereitet sich etwas für die Anatomie vor. Wie
er so an gar nichts Böses denkt, geht die Thür auf und herein
kommt niemand anders als Mathilde.

„Ich bin durchgebrannt“, sagt sie zu ihm, „ich muss zu
Dir! Mich hält’s nicht mehr!“

Hartwig erhebt sich in seiner ganzen Länge. „Teufel“,
donnert er, „seit wann stehen wir denn auf Du und Du?
Was wollen Sie denn von mir? Raus damit.“

Da wirft sich das Frauenzimmer auf einen Stuhl und
fängt an zu heulen wie 'ne Besessene. Hans sagt ihr: „Kind,
das kann ich nicht vertragen. Wollen Sie einen Schnaps,
oder Geld, oder was?“

Die Mathilde treibt’s aber immer toller. Schliesslich wirft
sie sich vor ihm auf die Erde und jammert und winselt:
„Dich gern haben, Dich gern haben.“ Was macht er nun?
Er gibt ihr den freundlichen Rath, sich etwas abzukühlen
und befördert sie an die Luft. Echt Hartwig, nicht wahr?

Am nächsten Tag war sie spurlos verschwunden. Hans
aber findet einen Zettel vor, auf dem steht so ungefähr:
,Ich kann an nichts mehr denken als an Dich“ oder irgend
ein ähnlicher Blödsinn.

Das geht so drei Tage. Der Hartwig ist todtenstill ge-
worden, seine Fäuste trägt er zusammengeballt, stundenlang
rennt er am Neckar auf und ab. Dann treten auf seiner
Stirne die Adern hervor: immer ein Zeichen, dass man’ihn
am besten gewähren lässt. Am vierten Tage treff ich ihn
mit Kassewitz, wie er gerade in die Anatomie gehen will.
Das war auch unser Weg. Am Hofthor kommt uns der
Hubermayer entgegen. Der Hubermayer ist Anatomiediener
und eines der frivolsten Subjecte, die mir im Leben vorge-
kommen sind. Dem ist’s schon gar nicht mehr wohl, wenn
er mit lebendigen Menschen in Berührung kommt. Der
Hubermayer also trifft uns, zieht seine Mütze und sagt:
„Guten Morgen, meine Herrn. Das Geschäft geht. Heute
Nacht haben wir eine frische Sendung bekommen, frisch aus
dem Neckar, meine Herrn.“

Der Hartwig fährt zusammen, als ob er mit der Hand
unversehens eine Elektricitätsmaschine entladen hätte, lässt
sich aber weiter nichts anmerken und steigt ganz ruhig die
Treppe hinauf. Im Gesicht war er bleich wie ein Betttuch.
Der Professor war zufällig auf dem Präparirboden und gleich

an der Thür hält er uns an. Hans kannte ihn persönlich,
der alte Geheimrath mochte ihn gut leiden, und wenn er
etwas für ihn thun konnte, so geschah es.

„Da ist eine ganz frische Leiche für Sie,“ wandte er sich
an Hartwig. „Legen Sie Ihr altes Kehlkopfpräparat bei Seite
und machen Sie ein neues.“

Der Angeredete verneigt sich: „Schön, Herr Geheimrath.“

Die Leiche selbst konnte er nicht sehen, da der Tisch,
auf dem sie lag, von einem Kreise Schaulustiger umgeben
war. Er nimmt sein Messer zur Hand und geht auf den
Tisch zu, hinter dem Professor her.

Der Kreis theilt sich. Die volle Morgensonne liegt auf
der Leiche.

Es war Mathilde.

Die wunderbaren blonden Haare hatte man nicht abge-
schnitten. Sie hängen über die Tischkante herunter bis auf
die Erde. Aecht waren sie, und sie glänzten wie Gold in der
Sonne. Und der ganze Körper in seiner weissen, reinen
Nacktheit, wunderbar gebaut und ausgestreckt wie im tiefen
Schlaf, einen merkwürdig wehmüthigen Zug um die Lippen —
ich sag’ Ihnen, Doktor, es war kein übles Bild. Es konnte
einem ganz friedlich dabei zu Muthe werden. Nun aber:
Hartwig kommt heran, erkennt im selben Augenblick das
Mädchen, springt mit einem Satze zurück und steht da wie
versteinert. Das Messer fällt ihm aus der Hand und bleibt
senkrecht im Boden stecken. Seine ganze Gestalt ist er-
schüttert. Nach drei oder vier Sekunden dreht er sich
schliesslich um und stürzt zum Saal hinaus. Studenten und
der Geheimrath sehen sich einander sprachlos an und können
nicht einmal lachen.

U Nachmittags haben wir ihn auf seiner Bude besucht. Da
sass er und starrte in’s Leere und murmelte in einem Stück
fort: „die hab’ ich umgebracht, die hab’ ich umgebracht.“ Und
dann packt ihn ein furchtbarer Zorn gegen sich selbst. Er
tobt, wird von Tag zu Tag nervöser. Keinen Fuss will er
mehr in den Präparirboden setzen, weil ein Gespenst für ihn
umgeht bei Tag und Nacht, sagt er. Schliesslich haben wir
ihn nach Hause schicken müssen. Der Junge wäre nur
verrückt geworden.

„Verstehen Sie jetzt den Zusammenhang, bester Doktor?“
fragte Schönpflug, als er zu Ende war.

„Hm, ja, ich verstehe schon,“ erwiderte der. „Und will
er ganz bestimmt umsatteln?“

„Ich glaube schon. Vielleicht ist’s auch das Beste bei
seiner Natur.“

„Was braucht der Junge auch so eine Raubritternatur
zu haben,“ brummte der Doktor.

„Vorhin haben Sie von uns dasselbe verlangt, vereintester
Herr,“ bemerkte Kassewitz.

„Na ja, aber mit Einschränkungen, Kinder, mit Ein-
schränkungen. So ganz können wir’s ja doch nicht vertragen,
und wenn heutzutage so zwei halbwilde Urmenschen anein-
ander gerathen, wie der Hans und die Mathilde, so gibt’s
gewöhnlich ein Unglück. — Bertha, noch einen Krug!“

Gezeichnet von A. Schraidhammer

430
Register
Arpad Schmidhammer: Zeichnung ohne Titel
 
Annotationen