Nr. 33
JUGEND
1896
seine Hand greift nach dem berüchtigten Buch in seiner
Tasche. „Kennt ihr lese?“ fragt er feierlich. Keine Ant-
wort. Ethel schaut mich entsetzt an.
„Ob ihr lese kennt, frog’ ich?“ — „Ja.“
„Schtehd da drausse nit: das Betrete dieser Wiese is
bei Schtrafe verböte? He? Mit was meint denn ihr, dass ma
das Vieh füttere soll, wenn ihr das ganze Gras ausroppt?“
„Wir — haben—ja nur Blumen geholt,“ schluchzte Ethel.
„Blumme un Gras is dasselbe. Das is mir ganz
Wurscht. — Wie heest ihr?“
Wir mussten unsere Namen angeben.
„Man wird doch noch ein paar Blumen pflücken dürfen!“
bemerkte ich im aufwallenden Zorn meines Quintanerherzens.
„Bist Du schtill, Du Lausbu. Nix darf ma. Macht, dass
er raus kommt oder —. Die Blumme werre do gelosse.“
Wir mussten die Körbe ausleeren und schlichen nach
Hause wie zwei geschlagene Hunde. Ethel weinte und zitterte.
„Es ist doch gar nicht so schlimm — wenn man —
gern — 'mal ein paar Blumen — haben — möchte.“
„Sei ruhig,“ tröstete ich sie, „ich hab’s ihm auch gründlich
gesagt.“ Wirklich — wenn ich jetzt so denke, was wir an
dem Sonntag Nachmittag ausgestanden haben, und am Montag
und Dienstag darauf: Qualen, buchstäbliche Qualen. Ich kam
von der Schule nach Hause und fragte Ethel: war schon
Jemand da? — aber fünf-, sechsmal im Tage. Und Ethel war
noch schlimmer dran, als ich. Jedesmal, wenn es schellte,
zuckte sie zusammen und sprang an’s Fenster. Jeden Schutz-
mann, der in die Nähe des Hauses kam, betrachtete sie
argwöhnisch und furchtsam, „’s war doch gar nicht so
schrecklich — was wir gethan haben, Harold?“ Ich konnte
nur die Achseln zucken: eine viel besagende Bewegung.
Mittwoch’s um 12 Uhr fand ich Ethel unten im Hausflur.
536
„Du, Harold, es war Jemand da,“ berichtete sie, „der
Schutzmann mit dem langen Bart — mit ’nem Brief. Droben
liegt er schon auf dem Papa sein’m Tisch.“
Wir stiegen die Treppe hinauf und fanden den Brief.
Der Stempel des grossherzoglichen Bezirksamtes war darauf.
„Harold — ich hab’ so furchtbare — Angst!“ Die hellen
Thränen liefen ihr die Backen herunter.
„Hör’ doch auf mit der dummen Heulerei“, sagte ich.
Mir war’s aber auch nicht viel wohler zu Muthe. Wir setzten
uns in den Erker und sahen auf die Strasse hinunter. Papa
ging mit dem Amtmann auf und ab. Sie verhandelten über
uns. Wir hatten so eine düstere Ahnung. Nun muss man
sich so ’nen Amtmann vorstellen: „Bester Herr Stadtrath,
nehmen Sie Ihre Rangen gefälligst ein bischen mehr in Zucht.
Ich hab’ Ihnen heute morgen einen Strafzettel schicken müssen
für 8 Mark. Die Beiden beschädigen fremdes Eigenthum,
ruiniren Wiesen. Das geht nicht. Wenn das Jeder thun wollte?“
Und in dem Stil weiter. Du kennst meinen Alten: Die Ge-
setzmässigkeit selber, nur nicht mit der Obrigkeit in feind-
selige Berührung kommen. Er kommt die Treppe herauf und
findet den Brief vom Bezirksamt. Drei Sekunden darauf
stehen wir vor ihm. Eine Donnerrede prasselte auf uns nieder:
„Natürlich wieder der Harold, der Strick! In der Schule taugt
er nichts und dafür läuft er auf den Wiesen herum. Zahl’
die acht Mark selbst, wenn Du kannst! Meinst Du, ich arbeite
von Morgens bis Abends, um schliesslich für Dich Strafzettel
zu bezahlen? Und die dumme Gans da rennt ihm natürlich
überall nach.“ Na, um’s kurz zu machen: ich bekam meine
Prügel und Ethel acht Tage lang kein Dessert.
Ich hab’ die Sache schnell verschmerzt und noch manchen
Strafzettel und manche Tracht Prügel bekommen. Aber Ethel
ist seit der Zeit nie mehr in eine Wiese gegangen, auch wenn
sie es gedurft hätte, und hat nie mehr an Blumen die Freude
gehabt, wie vor dem verhängnissvollen Sonntag. Ich versichere
Dich, Freund: Drunten steht heut’ alles voller Blumen, die
wunderbarsten Körbe sind da, Rosen, dass wir kaum wissen
wohin damit — und Ethel hat kaum einen Blick dafür.“
Fritz sah vor sich hin und lächelte:
„Das ist so ’ne simple Geschichte,“ fing er wieder an.
„Ich hab’ Dir sie erzählt, weil ich etwas erzählen musste
von meiner Ethel. ’s ist alles so unscheinbar, kommt hundert-
mal vor, kein Mensch achtet darauf. Und wie viel Poesie
geht dabei verloren. Was hat sie sich damals gefreut auf die
Blumenschlacht am Sonntag Nachmittag in unserem Stuhl-
wagen. Wenn’s nun so weit gekommen wäre, und die Blumen
wären hin- und hergeflogen: so rein alles, so ungekünstelt
— und was thät’s unserer Welt so gut. Aber so ein Kerl
mit ’ner Uniform und Knöpfen dran und die Viehhüter auf
dem Gras — die sorgen dafür, dass es nicht zu viel wird
mit der Poesie.“
Er stand auf. Ich musste lachen über seine Entrüstung.
„Es war so ein Vorgeschmack von der Schule des Lebens“,
sagte ich.
„Jawohl! Schule des Lebens!“ antwortete er. „Nur
schlimm, dass Manchem die Schule des Lebens so schlecht
bekommt.“
Wir standen auf und gingen.
OB©
Wetterböten
Es droht ein Wetter. Droben stehn die Wolken,
Wie finstre Männer, und erdonnern schon . .
Und auf den schilfbewegten Wasserkolken
Liegt einer Dommel banger Klageton.
Es droht ein Wetter. Noch ist nichts geschehen;
Und doch ruht über dir ein dumpfer Bann . .
Du fühlst dir Blitze durch die Seele gehen:
Schauer und Schmerzen künden sich dir an.
Franz Evers.
JUGEND
1896
seine Hand greift nach dem berüchtigten Buch in seiner
Tasche. „Kennt ihr lese?“ fragt er feierlich. Keine Ant-
wort. Ethel schaut mich entsetzt an.
„Ob ihr lese kennt, frog’ ich?“ — „Ja.“
„Schtehd da drausse nit: das Betrete dieser Wiese is
bei Schtrafe verböte? He? Mit was meint denn ihr, dass ma
das Vieh füttere soll, wenn ihr das ganze Gras ausroppt?“
„Wir — haben—ja nur Blumen geholt,“ schluchzte Ethel.
„Blumme un Gras is dasselbe. Das is mir ganz
Wurscht. — Wie heest ihr?“
Wir mussten unsere Namen angeben.
„Man wird doch noch ein paar Blumen pflücken dürfen!“
bemerkte ich im aufwallenden Zorn meines Quintanerherzens.
„Bist Du schtill, Du Lausbu. Nix darf ma. Macht, dass
er raus kommt oder —. Die Blumme werre do gelosse.“
Wir mussten die Körbe ausleeren und schlichen nach
Hause wie zwei geschlagene Hunde. Ethel weinte und zitterte.
„Es ist doch gar nicht so schlimm — wenn man —
gern — 'mal ein paar Blumen — haben — möchte.“
„Sei ruhig,“ tröstete ich sie, „ich hab’s ihm auch gründlich
gesagt.“ Wirklich — wenn ich jetzt so denke, was wir an
dem Sonntag Nachmittag ausgestanden haben, und am Montag
und Dienstag darauf: Qualen, buchstäbliche Qualen. Ich kam
von der Schule nach Hause und fragte Ethel: war schon
Jemand da? — aber fünf-, sechsmal im Tage. Und Ethel war
noch schlimmer dran, als ich. Jedesmal, wenn es schellte,
zuckte sie zusammen und sprang an’s Fenster. Jeden Schutz-
mann, der in die Nähe des Hauses kam, betrachtete sie
argwöhnisch und furchtsam, „’s war doch gar nicht so
schrecklich — was wir gethan haben, Harold?“ Ich konnte
nur die Achseln zucken: eine viel besagende Bewegung.
Mittwoch’s um 12 Uhr fand ich Ethel unten im Hausflur.
536
„Du, Harold, es war Jemand da,“ berichtete sie, „der
Schutzmann mit dem langen Bart — mit ’nem Brief. Droben
liegt er schon auf dem Papa sein’m Tisch.“
Wir stiegen die Treppe hinauf und fanden den Brief.
Der Stempel des grossherzoglichen Bezirksamtes war darauf.
„Harold — ich hab’ so furchtbare — Angst!“ Die hellen
Thränen liefen ihr die Backen herunter.
„Hör’ doch auf mit der dummen Heulerei“, sagte ich.
Mir war’s aber auch nicht viel wohler zu Muthe. Wir setzten
uns in den Erker und sahen auf die Strasse hinunter. Papa
ging mit dem Amtmann auf und ab. Sie verhandelten über
uns. Wir hatten so eine düstere Ahnung. Nun muss man
sich so ’nen Amtmann vorstellen: „Bester Herr Stadtrath,
nehmen Sie Ihre Rangen gefälligst ein bischen mehr in Zucht.
Ich hab’ Ihnen heute morgen einen Strafzettel schicken müssen
für 8 Mark. Die Beiden beschädigen fremdes Eigenthum,
ruiniren Wiesen. Das geht nicht. Wenn das Jeder thun wollte?“
Und in dem Stil weiter. Du kennst meinen Alten: Die Ge-
setzmässigkeit selber, nur nicht mit der Obrigkeit in feind-
selige Berührung kommen. Er kommt die Treppe herauf und
findet den Brief vom Bezirksamt. Drei Sekunden darauf
stehen wir vor ihm. Eine Donnerrede prasselte auf uns nieder:
„Natürlich wieder der Harold, der Strick! In der Schule taugt
er nichts und dafür läuft er auf den Wiesen herum. Zahl’
die acht Mark selbst, wenn Du kannst! Meinst Du, ich arbeite
von Morgens bis Abends, um schliesslich für Dich Strafzettel
zu bezahlen? Und die dumme Gans da rennt ihm natürlich
überall nach.“ Na, um’s kurz zu machen: ich bekam meine
Prügel und Ethel acht Tage lang kein Dessert.
Ich hab’ die Sache schnell verschmerzt und noch manchen
Strafzettel und manche Tracht Prügel bekommen. Aber Ethel
ist seit der Zeit nie mehr in eine Wiese gegangen, auch wenn
sie es gedurft hätte, und hat nie mehr an Blumen die Freude
gehabt, wie vor dem verhängnissvollen Sonntag. Ich versichere
Dich, Freund: Drunten steht heut’ alles voller Blumen, die
wunderbarsten Körbe sind da, Rosen, dass wir kaum wissen
wohin damit — und Ethel hat kaum einen Blick dafür.“
Fritz sah vor sich hin und lächelte:
„Das ist so ’ne simple Geschichte,“ fing er wieder an.
„Ich hab’ Dir sie erzählt, weil ich etwas erzählen musste
von meiner Ethel. ’s ist alles so unscheinbar, kommt hundert-
mal vor, kein Mensch achtet darauf. Und wie viel Poesie
geht dabei verloren. Was hat sie sich damals gefreut auf die
Blumenschlacht am Sonntag Nachmittag in unserem Stuhl-
wagen. Wenn’s nun so weit gekommen wäre, und die Blumen
wären hin- und hergeflogen: so rein alles, so ungekünstelt
— und was thät’s unserer Welt so gut. Aber so ein Kerl
mit ’ner Uniform und Knöpfen dran und die Viehhüter auf
dem Gras — die sorgen dafür, dass es nicht zu viel wird
mit der Poesie.“
Er stand auf. Ich musste lachen über seine Entrüstung.
„Es war so ein Vorgeschmack von der Schule des Lebens“,
sagte ich.
„Jawohl! Schule des Lebens!“ antwortete er. „Nur
schlimm, dass Manchem die Schule des Lebens so schlecht
bekommt.“
Wir standen auf und gingen.
OB©
Wetterböten
Es droht ein Wetter. Droben stehn die Wolken,
Wie finstre Männer, und erdonnern schon . .
Und auf den schilfbewegten Wasserkolken
Liegt einer Dommel banger Klageton.
Es droht ein Wetter. Noch ist nichts geschehen;
Und doch ruht über dir ein dumpfer Bann . .
Du fühlst dir Blitze durch die Seele gehen:
Schauer und Schmerzen künden sich dir an.
Franz Evers.