Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 1.1896, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 41 (10. Oktober 1896)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3224#0224
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1896

JUGEND

Nr. 41

Elegie Richard Schaupp

Hertha

von Karl Nikolaus Matthieffcn-Gieffen.

„Langsam ging ich die Bahnhofstraße hinauf.

Es fing an zu regnen; ich spannte meinen
Schirm auf, dann schloß ich ihn wieder, klemmte
ihn unter den Arm und stülpte den Mantel-
kragen in die lhöhe.

Ich liebe den Regen, und unter gewöhn-
lichen Umständen macht es mir einen kjeidcn-
spaß, mich einmal bis auf die kjant naß regnen
Z» lassen, vorausgesetzt, daß ich nicht einen
neuen Seidonhut auf dein Kopfe oder einen
Rock auf dem Leibe habe, der noch das un-
trügliche Zeichen seiner Jugendfrische an sich
trägt, jenen schwer definirbaren Geruch, der
bald an Schnupftabak und schweißige lhände,
bald an die Atmosphäre eines nie gelüfteten,
überheizten und zu allen möglichen 6aus-
haltszwecken dienenden Kleineleutezimmers er-
innert.

Ich liebe den Regen, und wenn er dann
wie Bindfaden herniederschnürt, habe ich nichts
Eiligeres zu thun, als eine alte leichte Joppe
und hohe Stiefeln anzuziehen, einen aus-
rangirten Filz auf mein tjanpt zu drücken und
dann, aller guten Sitte zum Trotz, mit dem
Gefühle des größten Wohlbehagens in langen
schritten draußen herumzusteigen. Prinzipiell
weiche ich dann keiner Wasserpfütze aus und
mit Vorliebe suche ich jene Gegenden unserer
guten Stadt auf, in denen sich bei derartigen
Gelegenheiten sofort die Abzugskanäle zu ver-
stopfen xstegen, worauf dann in den schmalen

Straßen eine regelrechte Ueberschwemmung
entsteht. Seelenvergnügt patsche ich durch das
sich anstauende Wasser hindurch, beneidet von
all' den blassen Gassenkindern, die, vom Drohen
und Schelten sorglicher Mütter in die Stube
gebannt, sehnsüchtig durch die schmalen Fenster
nach mir herausschauen, wobei sie ihre schmu-
tzigen Nasen an den blinden Scheiben platt
drücken.

Ls dauert dann gar nicht lange, so stellt
sich sauf meine Nase ein energischer Tropfen-
fall ein, ahal Eitle schnelle Verbeugung nach
vorwärts, und in kühnem Schwünge ergießt
sich das himmlische Naß, das sich in meiner
Hutkrempe gesammelt und dies eigenthümliche
Reservoir bis zum Rande gefüllt hat, in das
meine Stiefel umspülende Gewässer.

wie gesagt, derartige Regenstimmungen
haben für mich einen eigenen Reiz, dem ich
mich nicht leicht entziehen kann.

kjeute aber —• es regnete doch so famos
wie irgend möglich — heute hatte ich nicht
den geringsten Sinn für jene Reize.

Don Mantel zugeknöpft, den Kragen bis
an die Ghren eniporgcschlagen, den Schirm
unterm Arm, die lhände in die Taschen ge-
stockt, so schritt ich dahin; freilich, auch heute
vermied ich die Pfützen nicht, die auf den
Straßen standen, aber nur aus Unachtsamkeit
tappte ich hinein, gerade so gut wie ich mehrere
Male an Passanten anrannte und in Kollision
mit einem Kinderwagen gerieth.

Sie war acht Wochen fortgewescn. Ich
wußte, daß sie heute wiederkommen sollte,
wußte aber nicht, mit welchem Zuge. Ich ging
also zu dem Mittagsschnellzuge die Bahnhof-
straße hinauf. Nicht einen Augenblick dachte
ich daran, daß sie, was sehr leicht möglich ge-
wesen wäre, mit einem andern Zuge kommen
könnte, ich überlegte aber auch nicht: wird sie
kommen? Ich ging nur hinaus, vor Aufregung
zitternd, wie ein ungeduldiges Kind. Mir war
ganz seltsam zu Muthe; wie soll ich Ihnen
meinen Zustand schnell beschreiben? Warten
Sie 'mal; ja, sind Sie 'mal mit jemand ge-
gangen, der nicht Schritt halten konnte, oder,
halt, noch besser, haben Sie 'mal ein Gespann
gesehen, von dem das eine Pferd Galopp, das
andere Trab ging? Ls kommt nur darauf
an, daß Sie ein richtiges Verstäudniß für dies
Durcheinander verschiedener, in sich stetiger
Bewegungsarten haben; Sie wissen nicht, wo
das hinaus soll? Pardon einen Augenblick,
Sie werden es gleich sehen. Lin ganz ähn-
liches Potpourri von Bewegungen schien auch
in meinem Brustkasten zu herrschen. Ich fühlte
deutlich, wie mein bjerz in schlankem Trab
dahin pumpte, gleichzeitig aber, daß es neben-
her zweifellos noch im Galopp arbeitete. Ich
hatte die Empfindung, als werde der kostbare
Muskel jedesmal, wenn er seine natürliche
Bewegung ausgeführt, noch schnell ein paar
Mal hinter einander mit Riesengewalt zw.
sammengcxreßt und daun wieder losgelaffen^
wodurch ein ganz unglaubliches Tempo heraus'-
kam, ähnlich dem beim Schwimmen .
eins . . . Zwei, drei, . . . eins . . . zweh drei

6)5
Register
Richard Schaupp: Zeichnung ohne Titel
Karl Nikolaus Matthiessen-Giessen: Hertha
 
Annotationen