TUGEND
Nr. 5
Ludwig Radcrs (München).
189')
La Biblioteca Ambrosiana
Von /. Loeiuenberg;
mit einer Zeichnung von A. Jank.
„Voulez-vous avoir la bonte de me
preter — un — une — pas une plume —“
„Sie wünschen einen Bleistift?“
„Ah, ich danke Ihnen sehr, danke,
danke.“
Diese Worte wurden in einem Kolleg
des berühmten französischen Sprach-
forschers Gaston Paris gewechselt. Die
Mehrzahl seiner Hörer waren Deutsche.
Man konnte auf’s geradewohl jeden Nach-
bar auf Deutsch ansprechen und dabei
ziemlich sicher gehen, einen Landsmann
zu treffen. Aber auch ohne Kenntniss
dieser Thatsache und ohne das heraus-
gestotterte Französisch hätte ich dem
Bittsteller den Deutschen angesehen. Das
schlichte, lange, blonde Haar, die blauen
Augen, die grosse Gestalt und eine ge-
wisse schüchterne Unbeholfenheit ver-
riethen ihn als solchen.
Die Vorlesung, die über das Rolands-
lied handelte, war zu Ende.
Mein Nachbar reichte mir mit vielen
Dankesworten den Bleistift zurück.
„Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen
vorstelle: Ludwig Werte“.
Ich nannte meinen Namen.
„Sie sind erst seit Kurzem in Paris?“
fragte ich.
„Fast ein Jahr schon.“
„Ein Jahr schon!“ — und noch so
wenig geübt im Französischen, dachte ich,
aber er missverstand mein Erstaunen.
„Sie wundern sich, dass Sie mich so
selten bei Gaston Paris geseh’n. Ich ar-
beite zumeist in der Bibliothek und habe
die andern Vorlesungen gar nicht besucht.
Man hört das alles weit besser in Deutsch-
land. Aber die Einleitung über das Rolands-
lied wollte ich nicht versäumen. Die
Frage über die erste Abfassung des Epos
ist zu interessant und — noch immer un-
gelöst. Die Herren Professoren machen
die gewagtesten Conjecturen, und doch —“.
Er brach plötzlich ab und lächelte ver-
stohlen, wie jemand, der ein glückliches
Geheimniss zu bewahren hat.
„Es scheint, dass viele Deutsche hier
studiren“, nahm ich das Gespräch wieder
auf.
„Merkwürdig genug, sie lassen sich
hier von französischen Docenten lehren,
was diese selbst in Deutschland oder durch
Deutsche gelernt haben. Wir haben es
uns ja geradezu zur Aufgabe gemacht, den
Franzosen die Wissenschaft ihrer Sprache
zu geben. Uhland und Diez haben damit
begonnen, und ihre Jünger setzen es fort“.
„So geben wir ihnen nur auf andere
Weise zurück, was ihre Dichter vor Jahr-
hunderten den unsern in Stoff und Form
geliehen haben. Es besteht ein ewiger
Austausch von geistigen Werthen unter
den Völkern.“
„Wobei die Deutschen aber gewöhnlich
zu kurz kommen.“
„Um so besser für uns, wenn wir so
freigebig sein können. Ich bezweifle in-
dess — doch darüber ein andresmal. Jetzt
wird’s wohl Zeit, die Vorlesung über
Möllere zu hören. Sie gehen doch auch
hin?“
„Hat nicht das allergeringste Interesse
für mich. Ich gehe zur Bibliothek.“
„Auf Wiedersehen denn!“
„Auf Wiedersehen!“
Ich sah ihn noch die Strasse hinab-
schreiten; langsam schlottrigen Schrittes,
mit gebogenem Rücken und gesenktem
Kopf ging er der Bibliothek zu.
Wenige Tage später trafen wir uns am
Ausgange der Bibliothek.
Ein Herr schritt auf ihn zu und fragte
ihn etwas.
Verlegen blickte er mich an.
Ich antwortete statt seiner.
„Was hat der Kerl denn gewollt?“
„Nur wissen, wann die Bibliothek ge-
schlossen würde. Haben Sie denn nichts
verstanden? Sie scheinen kein Freund
des Französischen zu sein.“
„Wenigstens nicht des gesprochenen.“
„Aber um das zu lernen, geht man
doch hierher.“
„Nicht Jeder. Wir wollen ja Lehrer
werden, nicht Kellner.“
„Das schliesst nicht aus, dass wir auch
das lernen, was jeder Kellner kann: eine
lebende Sprache sprechen, und dass wir
uns ausserdem die Möglichkeit erwerben,
uns aus eigener Anschauung mit den
Sitten und Eigenheiten eines fremden
Volkes vertraut zu machen, mit Gliedern
dieses Volkes in lebendigen Verkehr zu
treten und durch persönliche Beziehungen
zu vereinen, was Vorurtheil und Staats-
kunst trennen.“
„Sie reden ja wie ein Volkstribun.“
„Nein, wie ein Schulmeister.“
„Ist das Ihr höchstes Ziel?“
„Ich kenne kein schöneres.“
„Und die Wissenschaft?“
„Unsere Kinder ersticken daran. Es
gibt keine schlechteren Lehrer als die
Gelehrten, und leider Gottes werden wir
ja alle samt und sonders nur auf den
dressirt. Wenn wir ausstudirt haben,
könnten wir beim Volksschullehrer in die
Lehre gehen.“
„Sie schwärmen auch für den?“
„Mein Vater war einer.“
„Der meinige nur ein simpler Acten-
schreiber; aber den Sinn für die histori-
sche Wissenschaft hab’ ich von ihm und
ich dank’ es meinen Lehrern, dass sie
ihn gepflegt haben. Sie selber freuen sich
der Schätze; aber Sie denken gering von
den Schatzgräbern, die sie suchen.“
„Ich denke von Keinem gering, der
ehrlich sucht; aber die Erde birgt noch
andre Schätze, als die, welche unter dem
Schutt vergangener Jahrhunderte liegen.
— Sie gehen doch mit zum Boulevard?“
Wir waren an der Brücke beim Louvre,
am Pont des Arts, angelangt, und mein
Begleiter bog ab, sie zu überschreiten.
„Ich muss nach Hause; ich wohne
Rue de Monsieur le Prince.“
„Kommen Sie mit, Herr Weite, Sie
müssen etwas weniger in die Bücher und
etwas mehr in das Leben gucken. Wir
wollen da unten eine Tasse Kaffee oder
ein Bock Bairisches trinken. Sie sollen
sehen, das Französische der Kellner klingt
gar nicht so übel, besonders wenn sie
einen guten Stoff bringen.“
„Ich habe noch nicht zu Mittag ge-
gessen.“
„Zu Mittag? Um 5 Uhr, hier in Paris?
Sie bekommen ja nirgends mehr etwas.“
„Ich bekomme schon, wenn nicht zu
Mittag, so zu Abend.“
Und wieder glitt das geheimnissvolle
Lächeln um seinen Mund.
Vergebens wollt’ ich ihn überreden,
einmal in einer der grossen Brasserien
zu speisen und dort uns’re neue Bekannt-
schaft auf meine Kosten zu begiessen.
Er lehnte es rundweg ab, reichte mir die
Hand und schritt über die Brücke.
Dann und wann sah ich meinen jungen
Landsmann wieder, zuweilen im Kolleg,
regelmässig in der Bibliothek. Dort sass
er gewöhnlich hinter einem Wall von
Büchern, mit leuchtendem Auge und glüh-
endem Antlitz. Er hatte sich so viele
Notizen, Auszüge und Collationen gemacht,
dass sie für ein Dutzend Durchschnitts-
dissertationen gereicht hätten; aber er
dachte noch gar nicht daran, zu promoviren.
Für den Zweck habe er sich etwas ganz
Besonderes aufgespart.
Am Sylvesterabend sah ich ihn zum
erstenmal auf meiner Bude. Bisher hatte
er jede Einladung abgeschlagen; selbst
das Glas Bier, das unsre neue Bekannt-
schaft einweihen sollte, war noch unge-
trunken.
Wie grundverschieden auch unsre Na-
turen, die Richtung uns’rer Studien waren,
sein ernstes Arbeiten, sein eifriges wissen-
schaftliches Streben musste ich schätzen,
und seine bescheidene, anspruchslose Art,
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Ludwig Radcrs (München).
189')
La Biblioteca Ambrosiana
Von /. Loeiuenberg;
mit einer Zeichnung von A. Jank.
„Voulez-vous avoir la bonte de me
preter — un — une — pas une plume —“
„Sie wünschen einen Bleistift?“
„Ah, ich danke Ihnen sehr, danke,
danke.“
Diese Worte wurden in einem Kolleg
des berühmten französischen Sprach-
forschers Gaston Paris gewechselt. Die
Mehrzahl seiner Hörer waren Deutsche.
Man konnte auf’s geradewohl jeden Nach-
bar auf Deutsch ansprechen und dabei
ziemlich sicher gehen, einen Landsmann
zu treffen. Aber auch ohne Kenntniss
dieser Thatsache und ohne das heraus-
gestotterte Französisch hätte ich dem
Bittsteller den Deutschen angesehen. Das
schlichte, lange, blonde Haar, die blauen
Augen, die grosse Gestalt und eine ge-
wisse schüchterne Unbeholfenheit ver-
riethen ihn als solchen.
Die Vorlesung, die über das Rolands-
lied handelte, war zu Ende.
Mein Nachbar reichte mir mit vielen
Dankesworten den Bleistift zurück.
„Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen
vorstelle: Ludwig Werte“.
Ich nannte meinen Namen.
„Sie sind erst seit Kurzem in Paris?“
fragte ich.
„Fast ein Jahr schon.“
„Ein Jahr schon!“ — und noch so
wenig geübt im Französischen, dachte ich,
aber er missverstand mein Erstaunen.
„Sie wundern sich, dass Sie mich so
selten bei Gaston Paris geseh’n. Ich ar-
beite zumeist in der Bibliothek und habe
die andern Vorlesungen gar nicht besucht.
Man hört das alles weit besser in Deutsch-
land. Aber die Einleitung über das Rolands-
lied wollte ich nicht versäumen. Die
Frage über die erste Abfassung des Epos
ist zu interessant und — noch immer un-
gelöst. Die Herren Professoren machen
die gewagtesten Conjecturen, und doch —“.
Er brach plötzlich ab und lächelte ver-
stohlen, wie jemand, der ein glückliches
Geheimniss zu bewahren hat.
„Es scheint, dass viele Deutsche hier
studiren“, nahm ich das Gespräch wieder
auf.
„Merkwürdig genug, sie lassen sich
hier von französischen Docenten lehren,
was diese selbst in Deutschland oder durch
Deutsche gelernt haben. Wir haben es
uns ja geradezu zur Aufgabe gemacht, den
Franzosen die Wissenschaft ihrer Sprache
zu geben. Uhland und Diez haben damit
begonnen, und ihre Jünger setzen es fort“.
„So geben wir ihnen nur auf andere
Weise zurück, was ihre Dichter vor Jahr-
hunderten den unsern in Stoff und Form
geliehen haben. Es besteht ein ewiger
Austausch von geistigen Werthen unter
den Völkern.“
„Wobei die Deutschen aber gewöhnlich
zu kurz kommen.“
„Um so besser für uns, wenn wir so
freigebig sein können. Ich bezweifle in-
dess — doch darüber ein andresmal. Jetzt
wird’s wohl Zeit, die Vorlesung über
Möllere zu hören. Sie gehen doch auch
hin?“
„Hat nicht das allergeringste Interesse
für mich. Ich gehe zur Bibliothek.“
„Auf Wiedersehen denn!“
„Auf Wiedersehen!“
Ich sah ihn noch die Strasse hinab-
schreiten; langsam schlottrigen Schrittes,
mit gebogenem Rücken und gesenktem
Kopf ging er der Bibliothek zu.
Wenige Tage später trafen wir uns am
Ausgange der Bibliothek.
Ein Herr schritt auf ihn zu und fragte
ihn etwas.
Verlegen blickte er mich an.
Ich antwortete statt seiner.
„Was hat der Kerl denn gewollt?“
„Nur wissen, wann die Bibliothek ge-
schlossen würde. Haben Sie denn nichts
verstanden? Sie scheinen kein Freund
des Französischen zu sein.“
„Wenigstens nicht des gesprochenen.“
„Aber um das zu lernen, geht man
doch hierher.“
„Nicht Jeder. Wir wollen ja Lehrer
werden, nicht Kellner.“
„Das schliesst nicht aus, dass wir auch
das lernen, was jeder Kellner kann: eine
lebende Sprache sprechen, und dass wir
uns ausserdem die Möglichkeit erwerben,
uns aus eigener Anschauung mit den
Sitten und Eigenheiten eines fremden
Volkes vertraut zu machen, mit Gliedern
dieses Volkes in lebendigen Verkehr zu
treten und durch persönliche Beziehungen
zu vereinen, was Vorurtheil und Staats-
kunst trennen.“
„Sie reden ja wie ein Volkstribun.“
„Nein, wie ein Schulmeister.“
„Ist das Ihr höchstes Ziel?“
„Ich kenne kein schöneres.“
„Und die Wissenschaft?“
„Unsere Kinder ersticken daran. Es
gibt keine schlechteren Lehrer als die
Gelehrten, und leider Gottes werden wir
ja alle samt und sonders nur auf den
dressirt. Wenn wir ausstudirt haben,
könnten wir beim Volksschullehrer in die
Lehre gehen.“
„Sie schwärmen auch für den?“
„Mein Vater war einer.“
„Der meinige nur ein simpler Acten-
schreiber; aber den Sinn für die histori-
sche Wissenschaft hab’ ich von ihm und
ich dank’ es meinen Lehrern, dass sie
ihn gepflegt haben. Sie selber freuen sich
der Schätze; aber Sie denken gering von
den Schatzgräbern, die sie suchen.“
„Ich denke von Keinem gering, der
ehrlich sucht; aber die Erde birgt noch
andre Schätze, als die, welche unter dem
Schutt vergangener Jahrhunderte liegen.
— Sie gehen doch mit zum Boulevard?“
Wir waren an der Brücke beim Louvre,
am Pont des Arts, angelangt, und mein
Begleiter bog ab, sie zu überschreiten.
„Ich muss nach Hause; ich wohne
Rue de Monsieur le Prince.“
„Kommen Sie mit, Herr Weite, Sie
müssen etwas weniger in die Bücher und
etwas mehr in das Leben gucken. Wir
wollen da unten eine Tasse Kaffee oder
ein Bock Bairisches trinken. Sie sollen
sehen, das Französische der Kellner klingt
gar nicht so übel, besonders wenn sie
einen guten Stoff bringen.“
„Ich habe noch nicht zu Mittag ge-
gessen.“
„Zu Mittag? Um 5 Uhr, hier in Paris?
Sie bekommen ja nirgends mehr etwas.“
„Ich bekomme schon, wenn nicht zu
Mittag, so zu Abend.“
Und wieder glitt das geheimnissvolle
Lächeln um seinen Mund.
Vergebens wollt’ ich ihn überreden,
einmal in einer der grossen Brasserien
zu speisen und dort uns’re neue Bekannt-
schaft auf meine Kosten zu begiessen.
Er lehnte es rundweg ab, reichte mir die
Hand und schritt über die Brücke.
Dann und wann sah ich meinen jungen
Landsmann wieder, zuweilen im Kolleg,
regelmässig in der Bibliothek. Dort sass
er gewöhnlich hinter einem Wall von
Büchern, mit leuchtendem Auge und glüh-
endem Antlitz. Er hatte sich so viele
Notizen, Auszüge und Collationen gemacht,
dass sie für ein Dutzend Durchschnitts-
dissertationen gereicht hätten; aber er
dachte noch gar nicht daran, zu promoviren.
Für den Zweck habe er sich etwas ganz
Besonderes aufgespart.
Am Sylvesterabend sah ich ihn zum
erstenmal auf meiner Bude. Bisher hatte
er jede Einladung abgeschlagen; selbst
das Glas Bier, das unsre neue Bekannt-
schaft einweihen sollte, war noch unge-
trunken.
Wie grundverschieden auch unsre Na-
turen, die Richtung uns’rer Studien waren,
sein ernstes Arbeiten, sein eifriges wissen-
schaftliches Streben musste ich schätzen,
und seine bescheidene, anspruchslose Art,
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