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Nr. 36

JUGEND

Die kleine Sievert

Ein Nachruf von Elsbetli Meyer-Förster.

In der strahlend erhellten Ludwigstrasse war’s, vor den
Theater-Affichen, die ich studirte. Passanten liefen geschäftig
hinter unseren Rücken vorbei, die Stadt schwebte in Abendduft,
und fern vom Tivoli her klang Musik, als meine Freundin zu
mir sagte:

„Du suchst wohl die Sievert? — Da kannst Du lange suchen!

Die Sievert ist todt 1“

Ich fuhr herum, starrte sie an, und sah dann in’s Gewühl
hinein. Ich fand kein Wort. Ich sah auf die vielen, buntgeputzten,
schönen Mädchen in rosa und weissen Kleidern, die über die
Dämme, die Trottoire strömten, als hätte der rosige Abend sie
direkt vom Himmel heruntergeregnet, dann blickte ich wieder
die Freundin an.

„Das ist nicht möglich“, sagte ich.

„Warum setzt Dich das so in Erstaunen?“ entgegnete meine
Freundin, und ihre noch etwas schulmädchenhafte Stimme klang
belehrend und ernst zugleich. „Der war doch ein Ende voraus-
zusehen. Bei diesem Leben, wie sie’s führte! Jeder von meinen
Brüdern und Cousins hat sie getroffen, wie sie Nachts in der
Georgstrasse herumflanirte. — Um die ist’s nicht so schade.“

Ich sah Lilly an, und ich bemerkte in ihrem Mädchengesicht
einen ganz neuen Zug, den ich noch nicht kannte: Eine strafende
Genugthuung, wie er allen Damen ihrer Heimathstadt zu eigen
ist, wenn sie der Moral ihres Nebenmenschen ein Zeugniss aus-
stellen. Bisher hatte ich diesen Ausdruck noch niemals an ihr
wahrgenommen. Lilly war mir immer als ein Ding für sich er-
schienen, unabhängig von der Weisheit ihrer Heimathstadt, rasch
emporgeschossen in ihrem Denken, unverkümmert, und vor
Allem von unverletzter Güte.

Ich sagte ihr, was ich in diesem Augenblick empfand. Sie
wurde einen Augenblick roth, dann zog sie mich rascher mit
fort, blieb wieder stehen und sah mich gross und fragend an.

„Ja, nun aber wirklich — wie kann Dich das so beschäf-
tigen? Was Berühmtes war sie doch durchaus nicht — und
sonst - im Uebrigen — schwindsüchtig war sie doch wohl von
Anfang an, das konnte schliesslich jeder sehen — und sonst —
ich habe nie etwas Besonderes an ihr finden können.“

„Besonderes? Nein. - Aber das Allgemeine, Lilly. Das
traurige, grosse Allgemeine.“

Jetzt sah sie mich mit geradezu kreisrunden Augen an, dann
zwinkerte sie, stiess den Schirm verlegen gegen den Prellstein
der Strasse und fragte: „Wieso?“

„Komm mit herauf, wir machen Lieht und setzen uns an’s
Fenster. Da sehen wir die weite Strasse entlang und können
plaudern, Du bist jetzt einundzwanzig Jahre, Lilly; glaubst
Du, dass es noch andere Dinge in der Welt gibt, als Verlobungs-
karten und bräutliche Geheimnisse auf duftendem Papier???

Ja, die Sievert - was war weiter an ihr dran. — Nur wie
solche Wesen sterben, und wie es u in sie ist, ehe denn sie sterben,
und mit welchen Tönen die Welt gegen sie angeklungen hat, und
in welchem Tone sie zurückgeklungen haben, — das ist es,
siehst Du, was irgend einen vielleicht doch beschäftigen kann.

Nein sie war keine Berühmtheit, gewiss nicht, obgleich die
ganze Stadt sie gekannt und jeder über sie gesprochen hat.

An dem kleinen Theater, dort hinten in der Nathanstrasse,
sollte es schliesslich auch schwer halten, zu einer Berühmtheit
auszuwachsen.

Das Publikum ist dort von reiner Kunstbegeisterung sehr fern,
und die Studenten und Offiziere gehen meist nur hin, um mit
einer hübschen Statistin anzubandeln oder ihre Witze zu reissen.

Artur Halm1

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Elsbeth Meyer-Förster geb. Blaschke: Die kleine Sievert
Arthur Lajos Halmi: Zeichnung zum Text "Die kleine Sievert"
 
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