Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1897

JUGEND

Nr. 30

Dennoch wird dort gut gespielt, das haben
wir oft erfahren und ich erinnere mich, dass
wir bei einzelnen Darstellern sogar Vergleiche
mit dem „Hoftheater“ anstellten.

Die Sievert war dort die Naive, und das
muss man sagen, Ehrgeiz hatte sie! Viel-
leicht hat Niemand an diesem Theater je so
wüthig gelernt, so enthusiastisch Hollen ver-
schlungen, gleichviel welcher Art, so beding-
ungslos Alles verzapft, was man ihr anbot, wie
sie, die kleine, sächsische self-made-woman,
die ihren Eltern aus irgend einem Zwickau
oder Wiehe ausgerückt war, um sich der Bühne
zu widmen.

Ich sehe sie noch wie das erste Mal — ein
Dreikäsehoch von einer Naiven, ein vermager-
tes Dingehen mit einem pudligen Tituskopf, mit
entgegenkommendem Lächeln, mit dunklen,
tiefliegenden, seltsam glänzenden Augen.

Ich höre noch ihre Vogelstimme, ihren
sächsischen Dialekt, ihr etwas hysterisches Ge-
lächter in Backfischrollen und ihren trockenen
Husten zwischendurch.

Ich glaube, die wenigsten im grossen Pu-
blikum haben den bemerkt; am allerwenigsten
die Einjährigen und eleganten Commis, mit
denen sie kokettirte.

Sie war so provozircnd liebenswürdig, dass
es Einem grausen konnte. Denn in das Lä-
cheln und Locken hinein kam dann ihr tro-
ckener Husten und in den auffordernden Blick
etwas Wehes und Grässliches, nein, mehr et-
was Herzzerschneidendes, wie bei einem Kinde,
das den Arzt anfleht, es loszulassen vom
Messer. Die Herren ihre Verehrer — sagten
dann: „Die magere, kleine Ziege! — Aber
Augen hat sie wie der Teufel. Das geht Einem
durch und durch!“

Zur Nachtzeit in der Georgstrasse — ich
kann sie mir denken, ja. Dieses ganze, arme
Grisettenleben kann ich mir denken, als sähe
ich es in auf- und absteigenden Linien vor mir
ausgebreitet. Was ihre Bedeutung als

winzige Künstlerin anbetrifft, so war die Sievert
Ruce — vorwärts, vorwärts, immer vorwärts,
irgendwie empor! Sie verschmähte keinen Weg,
sie lebte elend, aber ihre kleinen Thaliatheater-
Toiletten sollten glänzen, das magere Stückchen
von Körper behing sie so gern und prahlerisch,
und dabei war sie gutmüthig, sie borgte denen,
die nichts hatten, sie soufflirte den Dummen und
Faulen, sie gab und nahm aus voller Seele. —

Einmal haben wir sie im Schwimmbad ge-
troffen, weisst Du noch? Ihr verrückter Anzug
Hel auf zwischen den langen Hosen und Zitz-
pantalons und Badelaken und Hauben aus
Gummistoff mit Ohrenklappe und Krempe.

„Nein“, sagten alle, „diese Sievert!“ denn
ungeniert trat sie aus der Ankleidezelle, in
saftgrünem Hemd mit billigen Spitzen, und
winzigem, saftgrünen Unterröckchen, — der
Garnitur, wie sie gewisse Geschäfte für ge-
wisse Kundinnen mit freundlichem Entgegen-
kommen in's Schaufenster legen.

Nachher im Wasser war sie die Einzige,
die nicht schwimmen konnte, und ängstlich
und blaugefrorcn hielt sie sich im Kinderbassin
und sprang wie eine Kautschukpuppe immer
an der Leine auf und ab. Sie zitterte und
bebte, dass es zum Erbarmen war, und während
ihr gelockter Kopf und die mageren Schultern
über den grünen Wellen schwebten, konnte
ich den Vergleich zwischen ihr und einem
kranken, zum Kunststücke-Machen dressirten
Äffchen nicht los werden.

Um den Hals trug sie an einer dünnen,
goldenen Kette ein unscheinbares Medaillon.
Eine Gollegin suchte sie zu necken, griff nach
dein Medaillon und wollte es ihr vom Halse
ziehen. Da fuhr sie empor, ihr Gesicht war
ganz entstellt, Flammen schossen aus den

Augen und mit unnachahmlicher Gier packte
sie die kleine, runde Kapsel und schob sic
unter den Brustlatz des Badeanzugs.

Vielleicht war das, was sie da trug, etwas
Heiliges das Bild ihrer Mutter, einer Schwe-
ster oder auch nur eines Geliebten. Jedenfalls
enthielt es etwas, was von ihr geliebt worden
war, und was sie den frechen Fingern der
Collegin nicht gönnte; sie sah aus, als wolle
sie sich in einen Kampf Stürzen, wie sie da
stand und dem grossen, neckenden Mädchen
drohte, und alles brach in Gelächter aus über
die seltsame, wilde Nymphe.

Hast Du sie dann husten gehört in der
Nebenzelle? Erinnere Dich, ich hielt’s nicht
aus, ich lief auf den Gang hinaus, wo alle
die nassen, triefenden Gestalten standen und
wo von Gelächter und Geschrei ein solches
Toben herrschte, dass es den trockenen, schreck-
lichen, endlosen Ton, in dem etwas schluchzte
und pfiff, verschlang.

Aber eine halbe Stunde darauf trat sie her-
aus, frisch gelockt, parfümirt, gepudert und
gestiefelt, mit schwarzen, mondförmig gemalten
Augenbrauen, eine gemalte Röthe auf den ein-
gefallenen Wangen.

Die Feder auf dem grossen Rcmbrandthut
schwankte bei jedem Schritt, und die Schleppe
raschelte. — — —

Damals blühten die ersten Anfänge
des Radfahrsports in der Stadt, und wie bei
Allem, wo es galt sich zu zeigen, war sic auch
hier sofort dabei. Eine bekannte Firma machte
ihr den Antrag, Reklame für sic zu fahren, Gegen-
leistung sollte dann die Gratis-Lieferung eines
comfortablcn Rades und eines Radfahranzuges
sein. Bereitwillig sagte sic zu, wie sic, um
Geld zu verdienen, und Publikum zu machen,
auch jeder anderen, an sie ergehenden An-
forderung zugesagt hätte, und mit Enthusiasmus
Motordroschken durch die Stadt gelenkt oder
einen Luftballon bestiegen haben würde.

Und nun sah man sie zu jeder Zeit dahin-
schiessen auf ihrem Bicyclctte, in Sammthös-
chcn und einer Strandmütze mitgoldnem Anker,
wie sie die kleinen Buben tragen; eine rothe
riesige Herrenkravatte wehte ihr demokratisch
voran, mit der einen Hand hielt sie die Lenk-
stange, die andere war mit männlicher Sicher-
heit zwischen zwei Knöpfe der weissen Weste
geschoben. Wie ein kleiner, dummer Schul-
bub’, dem es Freude macht, die Welt durch
seine Kunstfertigkeit zu verblüffen, sah sie aus.
In ihr gelbliches, wehmüthiges Grisettengcsicht
kam Farbe bei der athemlosen Hetze, Schweiss
stand auf ihrer Stirn, und wer nahe vor ihrem
Rade den Strassendamm passirte, konnte ihr
lautes, kurzes Athmen hören.

So fuhr sie nicht nur für das Geschäft, son-
dern auch für sich selbst Reklame, ihre „Schnci-
digkeit“ intponirte, und die „kleine, magere
Ziege“ stieg damals vermutlich am höchsten

Angela Jaule (München).

|>Ie kleine Sievert

601

im Preis. Mit Ranzen Cavalcaden milchbärtiger
Jünglinge oder „höherer“ Studenten sah man
sie dahinfliegen, — aber einmal traf ich sie
auch ganz allein an, draussen in Milngel's Wald-
wirtschaft. Hinter einem Glas frischer Ziegen-
milch sass sie, im grossen, weiten Garten der
einzige Gast, und fütterte die Hühner. Dann
legte sie den Kopf an den Baumstamm zurück,
schloss die Augen und schien zu trilumen oder
zu schlafen. Die Sonne zitterte durch die Zweige,
und ein Strahl huschte ein paar Mal wie eine
glättende Hand über ihr schmales, krankes Ge-
sicht und über die müde Falte tief herab von
den Nasenflügeln zum Mund.

Ich kann das Bild nicht vergessen, wie sie
so dasass in tiefer Erschöpfung, regungslos, und
nur manchmal mit der Hand nach dem Glase
tastend, als dürsteten ihre Lippen, und als könne
sie sich doch nicht entschiiessen, die Augen
wieder zu öffnen, und das Dahindilmmern zu
enden. — —

Da trat der Kellner an ihren Tisch, setzte
laut die Teller aufeinander, und vertraulich mit
lachender Stimme sagte er:

„Wie, Fräulein, Sie schlafen wohl? Am
hellerlichten Morgen schon wieder müde?“

Sie fuhr auf, griff mechanisch in die Luft,
dann warf sie einen wirren Blick um sich, und
endlich brach sie in Gelächter aus; sie lachte
noch immer, während sie an ihr Zweirad ging
und sich nach Herrenart hinaufschwang, und
es sollte lustig sein, und klang doch so miss-
tönig und geschraubt, als sie mit ihrer gellen
Kinderstimme jetzt von ihrem hohen Sitz her-
unterrief :

„Nicht ’mal im Walde lasst’s Ihr Einem
Ruh, Ihr — —

Und gebückt, die schmale Brust fest auf
die Lenkstange gedrückt, hustend, lachend —
hustend, — sauste sie davon. — — —

Nun ist sie verdorben, gestorben.

Kannst Du Dir ihre letzten Tage denken,
ihr Bett im Hinterzimmer eines Hötel garni?

Schwindsüchtige kämpfen lange, und viel-
leicht ist’s auch die gutmüthigste Collegin zu-
letzt müde geworden, nach der armen Kleinen
zu sehen, die so lange stirbt.

Die Direktorin hat ihr wohl Kränze auf's
Grab gelegt, und auch ein kleines Holzkreuz
setzen lassen, dess’ bin ich sicher, denn sie ist
eine brave Frau. Ich denke noch an den guten
Blick, und die mütterliche Stimme, mit der sie
mir einst erzählte:

„Unsere Sievert wird oft für ein kleines
Schulmädel gehalten, wenn sie auf dem Rade
sitzt. Die Damen, die sic im Walde treffen,
fragen sie dann, wie alt sie ist, — uns’re liebe
Kleine.44 —

Und siehst Du Lilly, die Frau Direktorin
ist eine gute Bürgersfrau, eine Gattin und eine
Mutter, an der selbst die Damen Deiner Hei-
mathstadt nicht das geringste Häkchen krumm
zu biegen vermöchten; und dennoch sagte sie:
„Unsere liebe Kleine.44
Es gibt also doch Menschen, die nichts von
ihrem Posten verlieren, wenn sic sich auch
hinabbeugen zu denen, die drunten im Strudel
mit flehend erhobenen Armen vorübertreiben.

Glaubst Du nicht, dass der armen Sievert,
auf der Fahrt den Abgrund hinab, das Wort
„liebe Kleine44 noch ein Trostruf geworden ist,
— etwas wie Rettungszuruf?44

Lilly entgegnete nichts.
Sie starrte noch immer in das blendend helle
Licht der grossen Bogenlampe vor den Fenstern.
Aber von ihren Zügen war die ernsthafte Ge-
nugtuung gewichen, und mit ihrer lieben Mäd-
chenhand griff sie nach der meinen.
Register
Angelo Jank: Die kleine Sievert
 
Annotationen