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1897

JUGEND

Nr. 45

von Llsbctb Mcyer-Lörstcr

' „Es ist gut, daß Sic kommen," sagte Frau
Nimpsch zu mir, als ich eintrat. „Ich lvollte
schon lange einmal mit Ihnen reden —es brennt
mir so zu sagen aus der Seele, Kommen Sic,
setzen Sie sich, Liebste, machen Sie sich's recht
bequem. Sv, das ist nun mein Träum- und
Simlierstübchen, Männchen hat 's mir so recht
behaglich — aber nein, vor Allem will ich doch

davon sprechen-Hören Sie, Liebste!

Ich bin empört."

Die Einleitung ging rasch und schwungvoll.
Zwischen den wallenden, wogenden Linien der
vielen Kissen und Puffs aus dem sederwcichcn
Divan störte die pralle, stramme und üppige
Gestalt der Frau Nimpsch keineswegs die Har-
monie. Ein Zopsende, das ihr von der Frisur
losgegangen war und wie ein geschäftiger Feder-
kiel mit seiner dünnen Spitze hinter dem Ohre
wippte, war mir das einzig Störende au ihr.
Sonst war sie höchst angenehm.

„Ich weiß nicht, ob Sie gleich mir den Pro-
zes; S. verfolgt haben, der augenblicklich alle Ge-
müther in Spannung hält und die Spalten aller
Zeitungen füllte. Sogar ein paar hochachtbare
Damen sollen ein entschuldigendes Wort für die
Gefallene eingelegt haben. Nun bitte ich Sie!
Ein Mädchen, das sich gedankenlos hingegeben
hat! — Aber der Prozetz ist nur ein Symptom
der Zeit, die von dergleichen Fällen wimmelt. ES
ist uuersasftich, in welchem Matze das weibliche
Geschlecht zu sinken beginnt!

Wie Sie mich hier sitzen sehen, werden Sie
nicht denken, datz ich eine von den strengen und
bösen Sittenrichtcriunen bin, denen zeitlebens
die Trauben zu sauer gewesen sind. Das, worüber
ich mich bei dergleichen Fällen empöre, ist nur
die unaussprechliche Gedankenlosigkeit, mit der
diese Frauen zu Werke gehen. — Wollen Sie
einmal von einer Frau hören, die eine Vergangen-
heit gehabt hat, ohne doch je eine Vergangenheit
gehabt zu haben? Ja, Sie machen erstaunte
Augen. Ich bin die Frau, — wie Sie mich hier
bor sich sehen.

Sie sind die Erste, der ich davon erzähle. Ich
habe das Gefühl, datz Sie Aerständnitz dafür be-
sitzen, und ich hoffe, es füllt bei Ihnen alles gleich-
sam in ein Grab.

Also ich behaupte steif und fest: Nur an der
Prinzipienlosigkeit der Frauen liegt es, wenn
sse in ihrem Liebesverhältnitz zu Grunde gehen.
Äch glaube, ich hätte — wenn mich Männchen
nicht geheirathet haben würde — die tiefgehendsten
Beziehungen haben können, ohne mich jemals
Zu Vergessen. Ja ja, — es ist so, wie ich sage.
Hören Sie mich also an.

Mit neunzehn Jahren kam ich nach Zürich,
»i der Absicht mich als Studentin einschreiben
Zu lassen. Es ist später nichts aus dem Studium
geworden, denn Männchen heirathete mich weg
~~ aber das thut hier nichts zur Sache, jedenfalls
wngte ich in Zürich an.

Es war ein stürmischer, kalter Abend, der
Zug hatte wegen der Schneewehen Verspätung
gehabt, und so war es fast Mitternacht, als er
uuf dem Hauptbahuhof einfuhr.

. Harald Knopf war schon zur Stelle. Es war
s'u iunger Mann aus meiner Heimatsstadt, der
'»Zürich Medizin studirte, unddeuichpcrDcpesche
veordert hatte, mich vom Bahnhof abzuholcn
u»d »ach einem Hotel zu bringen.

Zu meinem Verdruss erwies sich's, datz alle
s^vtels, bei denen wir vorfuhren, bis aus die
Dachkammern besetzt waren. Es war ein patriot-
cycs Fest, die ganze Stadt illuminirt und bc-
'.rsllgt, und unsere Droschke, die sich durch die
--leuscheusluthen zwängte, gcrieth oft in Bc-
orangnitz.

1’. X. Weisheit (München).

Ich war recht ärgerlich auf den guten Harald

— beinah hätt' ich gesagt auf den gute» kleinen
Knopf. Endlich machte er mir den Vorschlag,
doch mit ihm zu seiner Wirthin zu fahren, die
ein möblirtes Zimmer frei stehen hatte, und in
diesem für die Nacht abzusteigen. Ich war ganz
starr, datz er mit dem Vorschlag nicht eher heraus-
gerückt war. Ich hätte mir dann mindestens
drei fruchtlose Droschkenfahrten erspart.

Als wir in der Wohnung oben ankamcn, be-
merkten wir an zwei paar Stiefeln, die vor dem
vermeintlich freien Zimmer standen, datz auch
dieses von Fremden besetzt worden war. Die
Wirthin, die sich zur Illumination begeben hatte,
>var noch nicht zu Haris. Wir warteten in Ha-
rald's Zimmer und horchten auf jeden Schritt,
der sich drunten auf dem einsamen Trottoir der
Hausthür näherte. Ich tvar müde und kaput,
erschöpft von der weiten Reise, und hatte Bären-
hunger; wie gern hätt' ich irgend eines kleines,
warmes Menu verzehrt, aber Harald besatz nichts
als eine Apfelsine, der gute Junge. Die schälte
er mir denn.

Endlich, als der Spatz denn doch zu lange
dauerte, gingen wir in den Corridor, und weckten
das Dienstmädchen, das in einer Nische hinter
einem Vorhang schlief. Das bekannte uns nun
schlaftrunken, datz Madame vor. dem Morgen
nicht nach Haus kommen ivürde, bei dergleichen
Gelegenheiten überitachte sie meist bei ihrer
Schwester Frau Gumpweiler, drautzen in Uutcr-
stratz. — Was thun?! Wir kehrten in das Zim-
mer zurück, und ich weinte — jung wie ich war

— vor Hunger und vor Aerger. Die Apfelsine
hatte natürlich meinen Appetit nur angeregt.

„Sic werden hier bleiben müssen, Johanna,"
sagte Harald. „Bei dem Schneetreiben können
wir unmöglich noch einmal auf die Suche gehn.
Auch würde es erfolglos sein."

„Aber wo soll ich schlafen?" entgcgnete ich ge-
reizt. „Ihre Wirthin hat alle Räume abgeschlossen.
Soll ich mich auf die Strohmatte vor die Entree-
thür legen? Ich bin halb erfroren, Harald. In
diesem Zimmer scheint nie geheizt zu sein." Dabei
sank ich halb um vor Müdigkeit.

„Wcnit ich Ihnen mein Bett atibietcu diirfte?"
stietz Harald hervor. Es war unglaublich, wie
er bei den wenigen Worten stotterte. Eine so
tödtliche Verlegenheit hatte ich noch nie gesehen.

„Aber wo wollcnSie schlafen, armesGcschöPf?"

„Ich? O — ich — kann ausgehen während
dieser Zeit, wenn Sie es wünschen."

„Nein, das würde ich nicht erlauben. Nun
und nimmermehr. Sic frieren ja selbst, datz
Sie beben. — Harald, hören Sic. Noch wenige
Wochen, dann bin ich vor Ihnen, vor der Weit,
und vor meiner eigenen, tiefinnersten Ucber-
zeugung Ihre Cvllegin, Ihr Kamerad — Ihr
Bruder, Harald Knopf! Streichen Sie diese
wenigen Wochen, die äußerlich noch dazivischen
liegen, aus Ihrem Bewußtsein. Lassen Sie das,
was der Universitätscodex in einer kurzen Spanne
Zeit ohnehin von uns verlangt, schon heute in
Kraft treten — die selbstlose Entäußerung unserer
Körpernatur zum Wohle der großen, geistigen
Gleichmachung. Vergessen Sie, datz Sie ein
Mann sind. Wir sind Genossen, Harald."-

Warum fand ich dieses Wort zu dieser Zeit?
Und warum fand die S. cs nicht, als sic sich
in einer ähnlichen Lage befand? Meine körper-
liche Reinheit war mein höchstes Ideal, und ich
ivar fest entschlossen es mir, selbst in der prekärsten
Lage nicht erschüttern zu lassen, ausgenommen
natürlich durch eine etwaige Hcirath.

So fest, so klar, so weitsichtig war ich also
schon damals, mit neunzehn Jahren, liebe Frau!
Ein stolzer Jubel erfüllte mich bei dem Gedanken
an die Stärke meiner Mission, sofern es mir
gelang in meinem freien, von Männern umringten
Dasein den Triumph über diese schwachen Naturen

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Register
Elsbeth Meyer-Förster geb. Blaschke: Reinheit
F. X. Weisheit: Zierleiste
 
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