1897
JUGEND
Nr. 46
und, wahrhaftig, den Weg zurr, eignen Glück
kennt man doch besser und crsolgreicher, als den
zum Glück des Nächsten. Das Leben hat mich
in manche Lagen gebracht, in denen ein geringer
Nachtheil, den ich Andere» zufügen mußte, die
Psorte zu einer große» eignen Glücksempfindung
war. Früher, als noch die individualistische
Moral mich beherrschte, bi» ich davor zurückge-
schreckt; jetzt weiß ich, wie unsittlich das war.
Denn sollte ein großes Glück nicht ein kleines
Leid wcrth sein, wenn doch beides in jenen einen
Kern der Dinge einströmt» in dem es keinen
Unterschied der Personen mehr gibt? Hätte ich
nicht anders entscheidend auch die Glücksbilanz
der Anderen gesteigert? Sic halten mich für
thcilnahmlos gegenüber den Freuden und Leiden
meiner Mitmenschen. Aber wie gleichgiltig ist,
was Sic damit bezeichnen, da ich doch im letzten
Grunde das Schicksal mit ihnen theile, und, ob
ich will oder nicht, keine Empfindung der Anderen
von mir unempsunden bleiben kann. Konnte
aber dennoch mein Wille mich vom Mitleid be-
sreien — Sie müßten cs billigen, denn mein
Mit-Leiden vermehrt doch jene Summe des Leides,
an der Alle gleichmäßig zu tragen haben!"
Das lvar zuviel für den Freund. Er fühlte
sich in jenem Zustand, in dem der Verstand
durchaus thätig und scharf allem folgt, was wir
sehen oder hören, während unser Gefühl es wie
betäubt und zerschlagen über sich ergehen läßt.
Es war ihm ganz deutlich: jener halte Recht;
aber nicht weniger deutlich: er selbst hatte auch
Recht. Hier konnte keine Logik entscheiden; die
höchste Selbstlosigkeit und der höchste Egoismus
bauten aus demselben Grunde. Er erschien ganz
verstört und wie hilfesuchend.
„Ich kann Ihnen mit gutem Gewissen sagen:
trösten Sie sich; denn Sie erfahren heute nur,
was ich längst weiß: daß jede Theorie und jeder
Glaube nur eine Form ist, in der die persönliche
Wcscnsrichtung des Individuums sich auslcbt. Lie
sind nicht gut und mitleidig, weil jener Sinn
unserer Lehre Sie ergriffen hätte,—umgekehrt, Sic
haben die Lehre so gedeutet, weil Sic eine selbst-
tose und hingehende Natur sind; ich habe sie
anders gedeutet, weil ich aus einem weniger
weichen Material konstruirt bin. Auf die Nuance
unserer Natur allein kommt es an; über welchem
allgemeinen Grunde sic das Gebäude des Lebens
errichtet, das entscheidet nicht über dessen Stil."
„Und damit sollten Sic Recht haben? Das
bischen persönliche Unterschiede zwischen den
Menschen entschiede über den Sinn des Welt-
bildes, das uns doch allen ein gemeinsames sein
wjißte? In der Hauptsache stimmten wir überein
und eine nebensächliche Tenipcramentssragc risse
uns doch so auseinander, als ob es keine Be-
rührung zwischen uns gäbe?"
„Gewiß, liebstcrFrcund. Auf der individuellen
Nuance steht alles, ganz allein. Von der Haupt-
lachc sprechen Sie und daß diese doch entscheide»
müßte? Die Hauptsache? Aber seit wann leben
Eie denn eigentlich am Ende diesesJahrhunderts?
Wissen Sic denn „och immer nicht, daß die
Hauptsache das Allcrgleichgiltigste ist?" G. S.
Dein Beitrag
Eichten wollt' ich, „einen Beitrag liefern"
Für die „Jugend" — denn ich mag sie leiden,
^Ucnu sie auch die wacker» Backtbeitsorschcr
Ucit den frommen Basen gern beschnüffeln,
-aß a,„ Schreibtisch und den Bleistift batt' ich
-chou gespitzt, in Worten auszumalen,
was die Gunst der Utnse zeigen möchte.
Andante eon espressione Hans Anetsberger (München).
775
JUGEND
Nr. 46
und, wahrhaftig, den Weg zurr, eignen Glück
kennt man doch besser und crsolgreicher, als den
zum Glück des Nächsten. Das Leben hat mich
in manche Lagen gebracht, in denen ein geringer
Nachtheil, den ich Andere» zufügen mußte, die
Psorte zu einer große» eignen Glücksempfindung
war. Früher, als noch die individualistische
Moral mich beherrschte, bi» ich davor zurückge-
schreckt; jetzt weiß ich, wie unsittlich das war.
Denn sollte ein großes Glück nicht ein kleines
Leid wcrth sein, wenn doch beides in jenen einen
Kern der Dinge einströmt» in dem es keinen
Unterschied der Personen mehr gibt? Hätte ich
nicht anders entscheidend auch die Glücksbilanz
der Anderen gesteigert? Sic halten mich für
thcilnahmlos gegenüber den Freuden und Leiden
meiner Mitmenschen. Aber wie gleichgiltig ist,
was Sic damit bezeichnen, da ich doch im letzten
Grunde das Schicksal mit ihnen theile, und, ob
ich will oder nicht, keine Empfindung der Anderen
von mir unempsunden bleiben kann. Konnte
aber dennoch mein Wille mich vom Mitleid be-
sreien — Sie müßten cs billigen, denn mein
Mit-Leiden vermehrt doch jene Summe des Leides,
an der Alle gleichmäßig zu tragen haben!"
Das lvar zuviel für den Freund. Er fühlte
sich in jenem Zustand, in dem der Verstand
durchaus thätig und scharf allem folgt, was wir
sehen oder hören, während unser Gefühl es wie
betäubt und zerschlagen über sich ergehen läßt.
Es war ihm ganz deutlich: jener halte Recht;
aber nicht weniger deutlich: er selbst hatte auch
Recht. Hier konnte keine Logik entscheiden; die
höchste Selbstlosigkeit und der höchste Egoismus
bauten aus demselben Grunde. Er erschien ganz
verstört und wie hilfesuchend.
„Ich kann Ihnen mit gutem Gewissen sagen:
trösten Sie sich; denn Sie erfahren heute nur,
was ich längst weiß: daß jede Theorie und jeder
Glaube nur eine Form ist, in der die persönliche
Wcscnsrichtung des Individuums sich auslcbt. Lie
sind nicht gut und mitleidig, weil jener Sinn
unserer Lehre Sie ergriffen hätte,—umgekehrt, Sic
haben die Lehre so gedeutet, weil Sic eine selbst-
tose und hingehende Natur sind; ich habe sie
anders gedeutet, weil ich aus einem weniger
weichen Material konstruirt bin. Auf die Nuance
unserer Natur allein kommt es an; über welchem
allgemeinen Grunde sic das Gebäude des Lebens
errichtet, das entscheidet nicht über dessen Stil."
„Und damit sollten Sic Recht haben? Das
bischen persönliche Unterschiede zwischen den
Menschen entschiede über den Sinn des Welt-
bildes, das uns doch allen ein gemeinsames sein
wjißte? In der Hauptsache stimmten wir überein
und eine nebensächliche Tenipcramentssragc risse
uns doch so auseinander, als ob es keine Be-
rührung zwischen uns gäbe?"
„Gewiß, liebstcrFrcund. Auf der individuellen
Nuance steht alles, ganz allein. Von der Haupt-
lachc sprechen Sie und daß diese doch entscheide»
müßte? Die Hauptsache? Aber seit wann leben
Eie denn eigentlich am Ende diesesJahrhunderts?
Wissen Sic denn „och immer nicht, daß die
Hauptsache das Allcrgleichgiltigste ist?" G. S.
Dein Beitrag
Eichten wollt' ich, „einen Beitrag liefern"
Für die „Jugend" — denn ich mag sie leiden,
^Ucnu sie auch die wacker» Backtbeitsorschcr
Ucit den frommen Basen gern beschnüffeln,
-aß a,„ Schreibtisch und den Bleistift batt' ich
-chou gespitzt, in Worten auszumalen,
was die Gunst der Utnse zeigen möchte.
Andante eon espressione Hans Anetsberger (München).
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