1898
JUGEND
Nr. 2
D a s M ä d ch c ii aus dev F r c m d c
Hermann Moest
(München)
Mann zu retten, ist sie zu allein fähig. D
sind ihr Logik, Taktgefühl, Mitleid! Als A
wort ans ihre Drohungen ergreift der Doi
ein Glas Wasser und trinkt es gierig aus.
Wie eine Bettlerin beginnt nun Nelly
abermals anzuflehen, sie appellirt an sein T
leid. Endlich gibt der Doktor nach. Er erl
sich langsam, reckt und streckt sich und sieht
nach seinem Rock um.
„Hier ist Ihr Rock!" ruft Nelly und Hilst i
beim Ankleiden . . . „So . . . nun komi
Sie, fahren wir! Ich werde Sie bezahlen .
werde Ihnen ewig dankbar sein!"
Aber, welch eine Pein! Kaum hatte der?
den Rock angezogen, da sank er wieder aus
Bett zurück. Nelly mutzte ihn aufrichten
in's Vorzimmer schleppen. Dort währte
wieder lange, bis er mit ihrer Hilfe Pelz
Ueberschuhe angezogen hatte. Schlietzlich koi
er die Mütze nicht finden. Endlich satzen B
im Wagen. Finsternitz verhüllte die Erde .
man sah die Hand nicht vor den Angen.
Wind brauste ihnen eiskalt entgegen. Der Wo
konnte aus den unebenen, gefrorenen Laudwc
nur langsam vorwärts kommen. Der Kuts
mutzte öfters absteigen, um den Weg zu sin
Nelly und der Arzt satzen schweigend da, sie füh
weder die Kälte, noch die Stotze des Wagi
„So treibe doch die Pferde an! Schnell '
wärts!" ruft Nelly dem Kutscher zu.
Endlich, gegen fiinf Uhr morgens, kommen
zu Tode abgehetzten Pferde an denHof. Dort ist
Ziehbrunnen, hier die Skälle und Scheunen
Nelly ist daheim,
„Warten Sie ein wenig, Doktor, ich gehe
voraus" - sagt sie und läßt den Arzt im Gast-
zimmer auf's Sopha niedersitzen. „Erwärmen
Sie sich, ich will Nachsehen, was er macht."
Bon ihrem Mann zurückkehrend, findet sie
den Doktor auf dem Sopha liegend. Er lallt
unverständliche Worte.
„Bitte, kommen Sie, Doktor . . . Doktor!"
„Was? . . . Fragen Sie die Magd . . ."
„Um Gottes willen .. . was ist mit Ihnen?"
„In der Sitzung sagten sie . . . Wlassow
meinte . . . Wer ist da? . . . Was ist los?. .."
Nelly sieht zu ihrem Schrecken, datz der Doktor,
ebenso wie ihr Mann, fiebert. '
Was soll sie nun thun?
„Zum Kreisarzt!" entschied sie.
Die Fahrt geht nun wieder in die finstere
Nacht hinaus, abermals über die gefrorene,
holprige Landstratze dem eiskalten Sturmwind
entgegen. Sie leidet an Seele und Leib und die
unbarmherzige Natur hat mit ihr weder Mitleid,
noch gönnt sie ihr täuschendeJllusionen. Nein, nein,
tausendmal lieber ewig eine alte Jungfer bleiben,
als noch einmal eine solche Nacht durchleben!...
Ein ander Bild.
Nelly sieht nun auf dem grauen Hintergründe,
wie ihr Mann mit Geldsorgen kämpft. Er soll
für die Schulden, die auf ihrem Gute lasten,
Zinsen bezahlen. Beide zermartern in schlaflosen
Nächten ihr Hirn, um einen Ausweg zu finden,
um dem Gerichtsvollzieher zu entgehen.
Jetzt sieht sie ihre Kinder... Sie ist in
steter Angst vor Scharlach, Diphtherie und an-
dern todbringenden Krankheiten. Jedesmal, wenn
sie sich von den Kindern trennen mutz, sühlt sie
Qualen, sogar vor den Schulzeugnissen ängstigt
sie sich. Bei der geringsten Erkältung fürchtet
sie, daß eines von ihren Kleinen sterben könnte.
Auf dem grauen Hintergründe erblickt sie
nun den Tod. Sie ist darauf vorbereitet. Es
ist ja begreiflich, datz von den Gatten eines zuerst
sterben und das Ueberlebende die grauenvolle
Prozedur der Beerdigung des Heimgegangenen
durchmachen mutz. Nelly sieht im Geiste ihren
Mann sterben. DieS fürchterliche Ereignis; zieht
mit allen qualvollen Einzelheiten an ihren Augen
vorüber. Den Sarg, die brennenden Kerzen,
die Geistlichkeit, sogar das Kommen des Sarg-
machers — nichts wird ihr erspart.
„Wozu das alles? Was hat es für einen
Sinn?" fragt sie und blickt verständnitzlos dem
todten Gatten in's Antlitz.
Ihr ganzes vorhergegangenes, eheliches Leben
scheint ihr nun wie eine sinnlose Tragikomödie, wie
ein unnützes Vorwort zu dem Schlußakt des Todes.
Plötzlich hört sie ein Geräusch. Es ist etwas
auf den Boden gefallen. Sie schrickt zusammen,
springt auf und öffnet die Augen. Ein Spiegel
liegt zu ihren Füßen, der andere steht noch auf-
recht vor ihr- Sie blickt hinein und sieht ihr
bleiches, verweintes Antlitz. Der graue Hinter-
grund ist verschwunden.
„Was für ein grauenhafter Traum!" denkt
sie und athmet tief und erleichtert auf.
Sie begibt sich zur Ruhe. Das eifrige Sinnen
und Trachten nach dem erhofften Eheglück ist
ihr gründlich vergangen.
(Deutsch v. Wilhelm Henckel.)
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D a s M ä d ch c ii aus dev F r c m d c
Hermann Moest
(München)
Mann zu retten, ist sie zu allein fähig. D
sind ihr Logik, Taktgefühl, Mitleid! Als A
wort ans ihre Drohungen ergreift der Doi
ein Glas Wasser und trinkt es gierig aus.
Wie eine Bettlerin beginnt nun Nelly
abermals anzuflehen, sie appellirt an sein T
leid. Endlich gibt der Doktor nach. Er erl
sich langsam, reckt und streckt sich und sieht
nach seinem Rock um.
„Hier ist Ihr Rock!" ruft Nelly und Hilst i
beim Ankleiden . . . „So . . . nun komi
Sie, fahren wir! Ich werde Sie bezahlen .
werde Ihnen ewig dankbar sein!"
Aber, welch eine Pein! Kaum hatte der?
den Rock angezogen, da sank er wieder aus
Bett zurück. Nelly mutzte ihn aufrichten
in's Vorzimmer schleppen. Dort währte
wieder lange, bis er mit ihrer Hilfe Pelz
Ueberschuhe angezogen hatte. Schlietzlich koi
er die Mütze nicht finden. Endlich satzen B
im Wagen. Finsternitz verhüllte die Erde .
man sah die Hand nicht vor den Angen.
Wind brauste ihnen eiskalt entgegen. Der Wo
konnte aus den unebenen, gefrorenen Laudwc
nur langsam vorwärts kommen. Der Kuts
mutzte öfters absteigen, um den Weg zu sin
Nelly und der Arzt satzen schweigend da, sie füh
weder die Kälte, noch die Stotze des Wagi
„So treibe doch die Pferde an! Schnell '
wärts!" ruft Nelly dem Kutscher zu.
Endlich, gegen fiinf Uhr morgens, kommen
zu Tode abgehetzten Pferde an denHof. Dort ist
Ziehbrunnen, hier die Skälle und Scheunen
Nelly ist daheim,
„Warten Sie ein wenig, Doktor, ich gehe
voraus" - sagt sie und läßt den Arzt im Gast-
zimmer auf's Sopha niedersitzen. „Erwärmen
Sie sich, ich will Nachsehen, was er macht."
Bon ihrem Mann zurückkehrend, findet sie
den Doktor auf dem Sopha liegend. Er lallt
unverständliche Worte.
„Bitte, kommen Sie, Doktor . . . Doktor!"
„Was? . . . Fragen Sie die Magd . . ."
„Um Gottes willen .. . was ist mit Ihnen?"
„In der Sitzung sagten sie . . . Wlassow
meinte . . . Wer ist da? . . . Was ist los?. .."
Nelly sieht zu ihrem Schrecken, datz der Doktor,
ebenso wie ihr Mann, fiebert. '
Was soll sie nun thun?
„Zum Kreisarzt!" entschied sie.
Die Fahrt geht nun wieder in die finstere
Nacht hinaus, abermals über die gefrorene,
holprige Landstratze dem eiskalten Sturmwind
entgegen. Sie leidet an Seele und Leib und die
unbarmherzige Natur hat mit ihr weder Mitleid,
noch gönnt sie ihr täuschendeJllusionen. Nein, nein,
tausendmal lieber ewig eine alte Jungfer bleiben,
als noch einmal eine solche Nacht durchleben!...
Ein ander Bild.
Nelly sieht nun auf dem grauen Hintergründe,
wie ihr Mann mit Geldsorgen kämpft. Er soll
für die Schulden, die auf ihrem Gute lasten,
Zinsen bezahlen. Beide zermartern in schlaflosen
Nächten ihr Hirn, um einen Ausweg zu finden,
um dem Gerichtsvollzieher zu entgehen.
Jetzt sieht sie ihre Kinder... Sie ist in
steter Angst vor Scharlach, Diphtherie und an-
dern todbringenden Krankheiten. Jedesmal, wenn
sie sich von den Kindern trennen mutz, sühlt sie
Qualen, sogar vor den Schulzeugnissen ängstigt
sie sich. Bei der geringsten Erkältung fürchtet
sie, daß eines von ihren Kleinen sterben könnte.
Auf dem grauen Hintergründe erblickt sie
nun den Tod. Sie ist darauf vorbereitet. Es
ist ja begreiflich, datz von den Gatten eines zuerst
sterben und das Ueberlebende die grauenvolle
Prozedur der Beerdigung des Heimgegangenen
durchmachen mutz. Nelly sieht im Geiste ihren
Mann sterben. DieS fürchterliche Ereignis; zieht
mit allen qualvollen Einzelheiten an ihren Augen
vorüber. Den Sarg, die brennenden Kerzen,
die Geistlichkeit, sogar das Kommen des Sarg-
machers — nichts wird ihr erspart.
„Wozu das alles? Was hat es für einen
Sinn?" fragt sie und blickt verständnitzlos dem
todten Gatten in's Antlitz.
Ihr ganzes vorhergegangenes, eheliches Leben
scheint ihr nun wie eine sinnlose Tragikomödie, wie
ein unnützes Vorwort zu dem Schlußakt des Todes.
Plötzlich hört sie ein Geräusch. Es ist etwas
auf den Boden gefallen. Sie schrickt zusammen,
springt auf und öffnet die Augen. Ein Spiegel
liegt zu ihren Füßen, der andere steht noch auf-
recht vor ihr- Sie blickt hinein und sieht ihr
bleiches, verweintes Antlitz. Der graue Hinter-
grund ist verschwunden.
„Was für ein grauenhafter Traum!" denkt
sie und athmet tief und erleichtert auf.
Sie begibt sich zur Ruhe. Das eifrige Sinnen
und Trachten nach dem erhofften Eheglück ist
ihr gründlich vergangen.
(Deutsch v. Wilhelm Henckel.)
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