Nr. 3
JUGEND
1898
Hans Christiansen (Paris).
Själar
Aus den schwedischen Skären.
von Birger Mörncr.
wir stießen gegen neu» Uhr Abends von
der Sandhammer Brücke ab. Ls war im
September, der Mond schien, und die Däni-
merung hatte langsam eingesetzt. Sehlstedt's
Haus leuchtete weiß hinter den dunklen Lon-
turen der Umgebung hervor; die Fackelstrahlen
der Leuchtfeuer tanzten im wellcnspiel ans
und nieder. Drüben am Strande wurde ge-
tanzt; eine traurig knarrende Viola sandte
ihre gequälten Töne über das Wasser zu
unserem Boot; ganz deutlich konnte man aus
dem Plan die Silhouetten der Tanzenden sich
hin- und herbewegen sehe». Der Süöost stand
mit kräftiger Brise landeinwärts; so passirten
wir Korsö und sichteten allmählich Grönskär.
Line einsame Liderente strich mit schwerenr
Flügelschlag über die dunkle Meeresoberfläche
dahin; fast schien es, als ob die bauchig ge-
formten Schwingen den Spiegel der stillen
Tiefe berührten. Ich folgte den, seewärts
ziehetidcn Vogel mit den Angen; schließlich
war er iin nächtlichen Dunkel verschwunden.
Und jetzt begann es zu nebeln. Lrstsprühten
litis einige Regentropfen entgegen, hin utid
wieder, dann immer dichter. Darauf krochen
die dicken Schwaden des Seenebels heran, »ns
langsain in ihren undurchdringlichen Schleier
hüllend. Ich warf einen fragenden Blick ans
meinen Freund, den Zollmachtmeister, welcher
mit cingespannten Rietnen baklängs im Achter-
theil des Bootes Platz genommen hatte. Mb
wohl der Mondschein verschwinden würde,
meinte ich zweifelnd. Lr nickte mit dem Kopfe.
„Das scheint so," setzte er in seiner lakon-
ischen Art hinzu.
Ich sah nach dem Gewehre, ordnete recht
vorsichtig meine Patronen des stärker fallenden
Regens wegen und deckte einen Delmantel über
die Sachen. Ich war bis an die Zähtie be-
waffnet: — ein Zwölfläufiger und die alte
treffliche Remingtonbüchse des Meisjerlotsen,
die er mir unter heiligen Lrmahtlungen an»
vertraut hatte.
Ls wurde immer dunkler. Der matte
Mondschitiimer erlosch; das Leuchtfeuer von
Grönskär erstrahlte immer intensiver; man
konnte iin Boote wirklich kaum die Hand vor
Augen sehen.
Um halb zwölf waren mir wohl eine
Landmeile weit auf freiem Wasser hinaus ge-
rudert. Lange schon hatten mir die letzte
nackte Skäre hinter nns, wo aus dem Schlaf
geschreckte Möven aufstiegen und uns im
Dunkel ein paar mal umkreisten. Der See-
gang war unbedeutend, lvir steuerten nach
dem Lompaß und dem Grönskär-Leuchtthmm.
plötzlich zog mein Begleiter die Ruder in See.
„wir sind falsch abgekommen. Sie müssen
mehr südwärts fein, sonst hätten wir sie gehört!"
Die kleine, versprengte Skäre, welche wir
suchten, war kaum größer als die Bddenfläche
eines gewöhnlichen Zimmers. Sie z» sehen,
war unmöglich, und wenn die See nicht höher
ging, konnte man auch kaum irgend welche
Brandung hören, wir sielen schnell nach
Südostcn ab »tid lurten aufs Reue. So ging's
ungefähr eine Stunde.
„Jetzt hör' ich siel" sagte der Mann und
nahm einen neuen Lurs.
Ich horchte angestrengt, vermochte aber
nichts zu vernehmen. Plötzlich glaubte ich einen
dumpfen Tot, an mein Dhr schlagen zu hören.
wir kamen näher und näher. Nun hörte
man es ganz deutlich. Das waren Geschöpfe
da draußen im Nachtdunkel; sie klagten und
jammerten. Mich faßte ein Gefühl der Be-
kleinmung.
Ho, hoo, hu, hun, hnuu, — so klang es.
Menigstens fünfzig Stimmen, grobe und feine
mischten sich durcheinander. Das Gatize schloß
sich zu einer rauhen Symphonie; da ivar
Seufzen und Angst, Raserei und wilde Ver-
zweiflung. Näher und näher tönte dies un-
heimliche Loncert zu nns herüber, aber nichts
ließ sich sehen: wir waren allein auf dem
Meere im tiefen Dunkel der Nacht.
Mein Begleiter ließ das Steuer los und
reffte lautlos das Segel. Lr setzte vorsichtig
die Riemen ein, um kein Geräusch zu erregen
und sachte ruderten wir weiter.
Itn selben Moment ging ein Strcifchen
Mondlicht über den Waffe,spiegcl. wenige
Meter entfernt tauchte vor »ns eine kleine
dunkle Lotitnr ans dein Wasser. Das war
die Skäre. Sie hatte die Form eitles Mützcn-
drckels; es schien, als ob sich etwas über denn
glatten Gestein dahin bewegte.
Da plätscherte es schwach in der Nähe des
Bootes. Lin großes schwarzes Haupt mit
einem gewaltigen Schnurrbart ittid einem Paar
blinkenden großen Augen erhob sich über den
Meeresspiegel. Lautlos, wie ein Theatergeist
zwischen den Lonlissen, versank es gleich dar-
auf wieder in die Tiefe.
Satan," wispelie mein Begleiter, „das
mar der Vorposten; er wird schwatzen l"
Hoo, hoo, hnu, tönte es stärker und stär-
ker; gleich mußten wir in Schußnähe sein.
Ich konnte sehen, wie der ganze kleine Skärcn-
rücken sich von lebetiden Gestalten bewegte.
Schieß' zu, oder es ist zu spät!"
warum zögerte ich dcntl noch? Litt plät-
schert! vernahm man an der Klippe, das
Wasser spritzte hoch auf. Ls war so, als ob
ein Mensch in die Tiefe gesunken wäre.
Und nun wurde es lebendig auf der Klippe,
von allen Seiten stürzten sich die Thiere, sich
gegenseitig übertummelnd, iii’s Wasser. Das
Mrchcster hatte mit einemmale seinen Vortrag
eingestellt, wie wenn der Kapellmeister kurz
und scharf mitten in eine Vuvcrtüre den Takt-
stock erschallen ließ. Line weiße Schaumwelle
wälzte sich schwer über dje niedrige Skäre,
daun blieb Alles still.
Ich ließ das Gewehr sinken, das war Alles
so unvorbereitet gekommen.
Ich hielt Umschau. Rund um das Boot
tauchten die dunklen Köpfe auf, große und
kleine alle richteten die klitzendcn „Seher" auf
die nächtliche Bootsgesellschaft, welche gekom-
men war, sie in ihrer Ruhe zu stören. Mir
gegenüber entstand eine w> llendc Bewegung
im lvaffcr. Lin riesiger Seehund erhob sich
aus der Tiefe und um kreiste dreist unser Fahr-
zeug. Ich fuhr mit der Büchse auf. nahm Ziel
und gab Feuer. Das Haupt verschwand und
mit ihm alle übrigen.
Ich legte das Gewehr zur Seite.
Der sank unter I" sagte der Schiffer.
Tief?"
Zwanzig Faden, wenn nicht mehr."
Lr war also verloren. Unnütz zusammenge-
schossen. Da kan, nur die ganzunwaidmännische
Vorstellung, der Schuß könnte dein Thiere wo-
möglich nur eine schwere Verletzung zugesügt
haben, märe vielleicht gar nicht einmal tödt-
lich. wenn ich dem wild etwa das Augen-
lia t geraubt hätte .... Lin heißes Schani-
gcfiihl überrieselte mich.
Ja, warum schoß ich denn eigentlich?
Die Robben waren fort, der Mond kroch
wieder hinter feine Nebeldecke, der Regen
rieselte dichter herab.
wir steuerten heimwärts.
Und während ich Nlit dem Setzen des Segels
beschäftigt war, tönte mir noch immer der jam-
mernde Ruf der „Själar *) in den Dhreil-
lvarum nennt man sie nun überhaupt so,
Själar — Seelen? Haben sie ihren Namen
einmal empfangen, lange, lange Zeit vordem,
da der Glaube an das Uebcrnatürliche stärker
war als heute? wahrlich, da diese Geschöpfe
von nah und fern sich auf einsamer Skärenklippe
gesammelt mitten iin weiten, heilige» Meere,
da ich ihren traurigen Klageruf vernahm,
däuchte es mir, als ob gefesselte, unholde
Geister im Dunkel der Nacht weinten und
seufzten um ihre Befreiung ...
*) Das schwedische Wort „Sjeil," (Mehrzahl
lar") bedeutet in der Volkssprache „Seehund" und zugleich
auch „Seele", „Gemlith", „u n si cht l> are s w e s e 11.*
JUGEND
1898
Hans Christiansen (Paris).
Själar
Aus den schwedischen Skären.
von Birger Mörncr.
wir stießen gegen neu» Uhr Abends von
der Sandhammer Brücke ab. Ls war im
September, der Mond schien, und die Däni-
merung hatte langsam eingesetzt. Sehlstedt's
Haus leuchtete weiß hinter den dunklen Lon-
turen der Umgebung hervor; die Fackelstrahlen
der Leuchtfeuer tanzten im wellcnspiel ans
und nieder. Drüben am Strande wurde ge-
tanzt; eine traurig knarrende Viola sandte
ihre gequälten Töne über das Wasser zu
unserem Boot; ganz deutlich konnte man aus
dem Plan die Silhouetten der Tanzenden sich
hin- und herbewegen sehe». Der Süöost stand
mit kräftiger Brise landeinwärts; so passirten
wir Korsö und sichteten allmählich Grönskär.
Line einsame Liderente strich mit schwerenr
Flügelschlag über die dunkle Meeresoberfläche
dahin; fast schien es, als ob die bauchig ge-
formten Schwingen den Spiegel der stillen
Tiefe berührten. Ich folgte den, seewärts
ziehetidcn Vogel mit den Angen; schließlich
war er iin nächtlichen Dunkel verschwunden.
Und jetzt begann es zu nebeln. Lrstsprühten
litis einige Regentropfen entgegen, hin utid
wieder, dann immer dichter. Darauf krochen
die dicken Schwaden des Seenebels heran, »ns
langsain in ihren undurchdringlichen Schleier
hüllend. Ich warf einen fragenden Blick ans
meinen Freund, den Zollmachtmeister, welcher
mit cingespannten Rietnen baklängs im Achter-
theil des Bootes Platz genommen hatte. Mb
wohl der Mondschein verschwinden würde,
meinte ich zweifelnd. Lr nickte mit dem Kopfe.
„Das scheint so," setzte er in seiner lakon-
ischen Art hinzu.
Ich sah nach dem Gewehre, ordnete recht
vorsichtig meine Patronen des stärker fallenden
Regens wegen und deckte einen Delmantel über
die Sachen. Ich war bis an die Zähtie be-
waffnet: — ein Zwölfläufiger und die alte
treffliche Remingtonbüchse des Meisjerlotsen,
die er mir unter heiligen Lrmahtlungen an»
vertraut hatte.
Ls wurde immer dunkler. Der matte
Mondschitiimer erlosch; das Leuchtfeuer von
Grönskär erstrahlte immer intensiver; man
konnte iin Boote wirklich kaum die Hand vor
Augen sehen.
Um halb zwölf waren mir wohl eine
Landmeile weit auf freiem Wasser hinaus ge-
rudert. Lange schon hatten mir die letzte
nackte Skäre hinter nns, wo aus dem Schlaf
geschreckte Möven aufstiegen und uns im
Dunkel ein paar mal umkreisten. Der See-
gang war unbedeutend, lvir steuerten nach
dem Lompaß und dem Grönskär-Leuchtthmm.
plötzlich zog mein Begleiter die Ruder in See.
„wir sind falsch abgekommen. Sie müssen
mehr südwärts fein, sonst hätten wir sie gehört!"
Die kleine, versprengte Skäre, welche wir
suchten, war kaum größer als die Bddenfläche
eines gewöhnlichen Zimmers. Sie z» sehen,
war unmöglich, und wenn die See nicht höher
ging, konnte man auch kaum irgend welche
Brandung hören, wir sielen schnell nach
Südostcn ab »tid lurten aufs Reue. So ging's
ungefähr eine Stunde.
„Jetzt hör' ich siel" sagte der Mann und
nahm einen neuen Lurs.
Ich horchte angestrengt, vermochte aber
nichts zu vernehmen. Plötzlich glaubte ich einen
dumpfen Tot, an mein Dhr schlagen zu hören.
wir kamen näher und näher. Nun hörte
man es ganz deutlich. Das waren Geschöpfe
da draußen im Nachtdunkel; sie klagten und
jammerten. Mich faßte ein Gefühl der Be-
kleinmung.
Ho, hoo, hu, hun, hnuu, — so klang es.
Menigstens fünfzig Stimmen, grobe und feine
mischten sich durcheinander. Das Gatize schloß
sich zu einer rauhen Symphonie; da ivar
Seufzen und Angst, Raserei und wilde Ver-
zweiflung. Näher und näher tönte dies un-
heimliche Loncert zu nns herüber, aber nichts
ließ sich sehen: wir waren allein auf dem
Meere im tiefen Dunkel der Nacht.
Mein Begleiter ließ das Steuer los und
reffte lautlos das Segel. Lr setzte vorsichtig
die Riemen ein, um kein Geräusch zu erregen
und sachte ruderten wir weiter.
Itn selben Moment ging ein Strcifchen
Mondlicht über den Waffe,spiegcl. wenige
Meter entfernt tauchte vor »ns eine kleine
dunkle Lotitnr ans dein Wasser. Das war
die Skäre. Sie hatte die Form eitles Mützcn-
drckels; es schien, als ob sich etwas über denn
glatten Gestein dahin bewegte.
Da plätscherte es schwach in der Nähe des
Bootes. Lin großes schwarzes Haupt mit
einem gewaltigen Schnurrbart ittid einem Paar
blinkenden großen Augen erhob sich über den
Meeresspiegel. Lautlos, wie ein Theatergeist
zwischen den Lonlissen, versank es gleich dar-
auf wieder in die Tiefe.
Satan," wispelie mein Begleiter, „das
mar der Vorposten; er wird schwatzen l"
Hoo, hoo, hnu, tönte es stärker und stär-
ker; gleich mußten wir in Schußnähe sein.
Ich konnte sehen, wie der ganze kleine Skärcn-
rücken sich von lebetiden Gestalten bewegte.
Schieß' zu, oder es ist zu spät!"
warum zögerte ich dcntl noch? Litt plät-
schert! vernahm man an der Klippe, das
Wasser spritzte hoch auf. Ls war so, als ob
ein Mensch in die Tiefe gesunken wäre.
Und nun wurde es lebendig auf der Klippe,
von allen Seiten stürzten sich die Thiere, sich
gegenseitig übertummelnd, iii’s Wasser. Das
Mrchcster hatte mit einemmale seinen Vortrag
eingestellt, wie wenn der Kapellmeister kurz
und scharf mitten in eine Vuvcrtüre den Takt-
stock erschallen ließ. Line weiße Schaumwelle
wälzte sich schwer über dje niedrige Skäre,
daun blieb Alles still.
Ich ließ das Gewehr sinken, das war Alles
so unvorbereitet gekommen.
Ich hielt Umschau. Rund um das Boot
tauchten die dunklen Köpfe auf, große und
kleine alle richteten die klitzendcn „Seher" auf
die nächtliche Bootsgesellschaft, welche gekom-
men war, sie in ihrer Ruhe zu stören. Mir
gegenüber entstand eine w> llendc Bewegung
im lvaffcr. Lin riesiger Seehund erhob sich
aus der Tiefe und um kreiste dreist unser Fahr-
zeug. Ich fuhr mit der Büchse auf. nahm Ziel
und gab Feuer. Das Haupt verschwand und
mit ihm alle übrigen.
Ich legte das Gewehr zur Seite.
Der sank unter I" sagte der Schiffer.
Tief?"
Zwanzig Faden, wenn nicht mehr."
Lr war also verloren. Unnütz zusammenge-
schossen. Da kan, nur die ganzunwaidmännische
Vorstellung, der Schuß könnte dein Thiere wo-
möglich nur eine schwere Verletzung zugesügt
haben, märe vielleicht gar nicht einmal tödt-
lich. wenn ich dem wild etwa das Augen-
lia t geraubt hätte .... Lin heißes Schani-
gcfiihl überrieselte mich.
Ja, warum schoß ich denn eigentlich?
Die Robben waren fort, der Mond kroch
wieder hinter feine Nebeldecke, der Regen
rieselte dichter herab.
wir steuerten heimwärts.
Und während ich Nlit dem Setzen des Segels
beschäftigt war, tönte mir noch immer der jam-
mernde Ruf der „Själar *) in den Dhreil-
lvarum nennt man sie nun überhaupt so,
Själar — Seelen? Haben sie ihren Namen
einmal empfangen, lange, lange Zeit vordem,
da der Glaube an das Uebcrnatürliche stärker
war als heute? wahrlich, da diese Geschöpfe
von nah und fern sich auf einsamer Skärenklippe
gesammelt mitten iin weiten, heilige» Meere,
da ich ihren traurigen Klageruf vernahm,
däuchte es mir, als ob gefesselte, unholde
Geister im Dunkel der Nacht weinten und
seufzten um ihre Befreiung ...
*) Das schwedische Wort „Sjeil," (Mehrzahl
lar") bedeutet in der Volkssprache „Seehund" und zugleich
auch „Seele", „Gemlith", „u n si cht l> are s w e s e 11.*