Nr. 4
• JUGEND
189S
Sonntagskind
Mir haben rin hriiiges Kind.
Am Sonntag, im feinsten Gewände,
Das Haar ihm genesteit mit seidenem Wunde,
Entschlüpft es geheim und geschwind.
Lind schleicht sich in's schönste Gemach,
Da kennt es die Wlumen und Wilder!
And leise — wie ferne! — erhebt sich
rin milder
Gesang wie von Lerchen vor Tag.
And löst sich von Lippen und Brust
Nun stärker und süßer und freier —!
Dem strahlenden, schöneren Tage zur Feier
Erbebt es in klingender Lust.
And einst, so beschlichen wir's Bcid':
Da schaut es so groß in die Helle —
And plötzlich nun dreht sich's im Tanze so
schnelle — —
And streichelt dann zärtlich sein Kleid.
And wieder zum Fenster gekehrt,
Beginnt sie mit neuen Gesängen,
Fügt träumende Worte zu ahnenden Stangen,
Die sie wohl Keiner gelehrt.
waschen die cingcseiftcn Hände zum Himmel
aufheben und stammeln: Gott, Gott, Gott!
— Diese brausende Ouvertüre leitet, wie
billig, nicht selten Tragödien ein.
Jede richtige Liebe muß einmal heim-
lich gewesen sein, zum mindesten muß sie
heimlich gethan haben. Geheimnisse binden.
Scheue, grüßende Blicke sind süßer als alle
öffentlichen Umarmungen; auch sagen sie
viel mehr, als zärtliche Bcthcuerungen.
Das Mädchen, das sich vor heimlicher Liebe
scheut, mag sehr respektabel sein, aber sie
paßt höchstens für einen prcdigtamtscandi-
daten, und auch unter diesen gibt es Leute,
die herzhafter denken.
„Das ewig weibliche zieht uns hinan." —
Thur doch nicht Alle, als ob ihr Fauste wärt!
Den Glücklichen schenkt der Heer die
Liebe im Schlafe. Sie betteln nicht und
drohen nicht, und Hannchen und Mariechcn
lieben sie doch. Es ist aber zweifelhaft, ob
sie zu beneiden sind, diese erotischen Rentiers.
Du klingendes Seelchen, nur zu,
And trinke Dir Schönheit vom Leben!
Wir hören's beglückt, daß ein Sind uns
gegeben
Voll dankender Sehnsucht wie Du.
Mtto Lrnst.
Kon Ließe und GHe
Betrachtungen von Otto Aulius Bierbaum.
i.
Sich einen Rausch an der Liebe trinken,
in scharlachrorhen Nebeln taumeln, die welk
mit bunten Rändern sehen, früh schon beim
wer alle Götter mobilisirt um ein wcib,
an dem rächen sich später häufig alle Götter.
8. Pankok.
Vcrnunftehen sind recht häufig das Un
vernünftigste, das Einer auf diesem Gc-
biete leisten kann. Nicht Jeder hat das
Zeug ;um Vcrnunfrehemann. Es gehören
dazu Menschen von ganz besonderer Art,
und wo auch nur eine Spur von Sentimen-
talität vorhanden ist, da fehlt cs schon am
wesentlichen dazu. Die Geschäftsleute des
Herzens sind, wenigstens in Deutschland,
keineswegs so häufig, wie man denkt. Aber
wie cs viel mehr Leute gibt, die ohne Talent
und Beruf an der Börse spielen, als solche,
die dazu die nöthigcn Eigenschaften haben,
so gehen auch viel mehr Leute Bcrufsehen
ein, als dazu geschaffen sind. Diese im-
provisirte Vernünftigkeit ist der sträflichste
Leichtsinn von allen, und es ist fast unbe-
greiflich, daß der stärkste Instinkt des
Menschen durch die Rultur in so vielen
Fällen so unsicher gemacht werden konnte.
Ein junger Mann lebte in wilder Ehe.
Ei, ei, dachte sich die Gesellschaft, fand ihn
sehr interessant und lud ihn fleißig ein.
Da fiel cs dem jungen Manne aufs Herz,
daß er die Moral der Gesellschaft beleidigte,
und er hielt cs für nöthig, seinen Fehler
wieder gut zu machen: That einen Frack
an, eine weiße Binde um und ging auf's
Standesamt. Von diesem Tage an lud
ihn die Gesellschaft nicht mehr ein. Er
war jetzt „so Einer," der „so Eine" ge
hcirathct hatte. Da wurde der junge Mann
a» Moral und Gesellschaft irre und schimpfte
sehr. Er hätte lieber billig denken und cs
der Gesellschaft nachfühlen sollen, wie sie,
die nicht vom Moralischen, sondern vom
Interessanten lebt, es natürlich übel em-
pfinden muß, wenn ein „interessanter"
Mensch sich uninteressant macht.
Viele Frauen haben zwar nicht den
Muth zum Ehebruch, aber einen Eheknacks
eiskiren sie mit Grazie.
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Sonntagskind
Mir haben rin hriiiges Kind.
Am Sonntag, im feinsten Gewände,
Das Haar ihm genesteit mit seidenem Wunde,
Entschlüpft es geheim und geschwind.
Lind schleicht sich in's schönste Gemach,
Da kennt es die Wlumen und Wilder!
And leise — wie ferne! — erhebt sich
rin milder
Gesang wie von Lerchen vor Tag.
And löst sich von Lippen und Brust
Nun stärker und süßer und freier —!
Dem strahlenden, schöneren Tage zur Feier
Erbebt es in klingender Lust.
And einst, so beschlichen wir's Bcid':
Da schaut es so groß in die Helle —
And plötzlich nun dreht sich's im Tanze so
schnelle — —
And streichelt dann zärtlich sein Kleid.
And wieder zum Fenster gekehrt,
Beginnt sie mit neuen Gesängen,
Fügt träumende Worte zu ahnenden Stangen,
Die sie wohl Keiner gelehrt.
waschen die cingcseiftcn Hände zum Himmel
aufheben und stammeln: Gott, Gott, Gott!
— Diese brausende Ouvertüre leitet, wie
billig, nicht selten Tragödien ein.
Jede richtige Liebe muß einmal heim-
lich gewesen sein, zum mindesten muß sie
heimlich gethan haben. Geheimnisse binden.
Scheue, grüßende Blicke sind süßer als alle
öffentlichen Umarmungen; auch sagen sie
viel mehr, als zärtliche Bcthcuerungen.
Das Mädchen, das sich vor heimlicher Liebe
scheut, mag sehr respektabel sein, aber sie
paßt höchstens für einen prcdigtamtscandi-
daten, und auch unter diesen gibt es Leute,
die herzhafter denken.
„Das ewig weibliche zieht uns hinan." —
Thur doch nicht Alle, als ob ihr Fauste wärt!
Den Glücklichen schenkt der Heer die
Liebe im Schlafe. Sie betteln nicht und
drohen nicht, und Hannchen und Mariechcn
lieben sie doch. Es ist aber zweifelhaft, ob
sie zu beneiden sind, diese erotischen Rentiers.
Du klingendes Seelchen, nur zu,
And trinke Dir Schönheit vom Leben!
Wir hören's beglückt, daß ein Sind uns
gegeben
Voll dankender Sehnsucht wie Du.
Mtto Lrnst.
Kon Ließe und GHe
Betrachtungen von Otto Aulius Bierbaum.
i.
Sich einen Rausch an der Liebe trinken,
in scharlachrorhen Nebeln taumeln, die welk
mit bunten Rändern sehen, früh schon beim
wer alle Götter mobilisirt um ein wcib,
an dem rächen sich später häufig alle Götter.
8. Pankok.
Vcrnunftehen sind recht häufig das Un
vernünftigste, das Einer auf diesem Gc-
biete leisten kann. Nicht Jeder hat das
Zeug ;um Vcrnunfrehemann. Es gehören
dazu Menschen von ganz besonderer Art,
und wo auch nur eine Spur von Sentimen-
talität vorhanden ist, da fehlt cs schon am
wesentlichen dazu. Die Geschäftsleute des
Herzens sind, wenigstens in Deutschland,
keineswegs so häufig, wie man denkt. Aber
wie cs viel mehr Leute gibt, die ohne Talent
und Beruf an der Börse spielen, als solche,
die dazu die nöthigcn Eigenschaften haben,
so gehen auch viel mehr Leute Bcrufsehen
ein, als dazu geschaffen sind. Diese im-
provisirte Vernünftigkeit ist der sträflichste
Leichtsinn von allen, und es ist fast unbe-
greiflich, daß der stärkste Instinkt des
Menschen durch die Rultur in so vielen
Fällen so unsicher gemacht werden konnte.
Ein junger Mann lebte in wilder Ehe.
Ei, ei, dachte sich die Gesellschaft, fand ihn
sehr interessant und lud ihn fleißig ein.
Da fiel cs dem jungen Manne aufs Herz,
daß er die Moral der Gesellschaft beleidigte,
und er hielt cs für nöthig, seinen Fehler
wieder gut zu machen: That einen Frack
an, eine weiße Binde um und ging auf's
Standesamt. Von diesem Tage an lud
ihn die Gesellschaft nicht mehr ein. Er
war jetzt „so Einer," der „so Eine" ge
hcirathct hatte. Da wurde der junge Mann
a» Moral und Gesellschaft irre und schimpfte
sehr. Er hätte lieber billig denken und cs
der Gesellschaft nachfühlen sollen, wie sie,
die nicht vom Moralischen, sondern vom
Interessanten lebt, es natürlich übel em-
pfinden muß, wenn ein „interessanter"
Mensch sich uninteressant macht.
Viele Frauen haben zwar nicht den
Muth zum Ehebruch, aber einen Eheknacks
eiskiren sie mit Grazie.
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