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Nr. 5

JUGEND

1898

Käs verlorene «DeivUen

von M. 3. Lsultykow-Schtschcdrin

Sas Gewissen war abhanden gekonnnen. Aber
die Menschen drängten sich ebenso wie früher
in den Gassen und Theatern, sie wachten Ge-
schäfte, bereicherten sich und niemand schien zu
ahnen, daß etwas fehle, daß im allgemeinen
Konzert des Lebens ein Instrument verstummt
war. Biele fühlten sich sogar rüstiger und freier,
sie schritten erhobenen Hauptes daher und konnten
nun ihren Nebenmenschen leichter Fallen stellet:,
Gruben graben, besser heucheln, schmeicheln,
kriechen, betrügen, verleumden und denunziren.
Alle „Schmerzen" waren wie weggeblasen, nichts
betrübte die Menschen, kein Nachsinnen belästigte
sie mehr, Gegenwart und Zukunft standen ihnen
offen — kurz, der Verlust des Gewissens ward
gar nicht bemerkt.

Es war ganz plötzlich verschwunden. Noch
gestern flimmerte das langweilige, aufdringliche
Wesen beständig vor den Augen, es belästigte
die erhitzte Phantasie — und nun war es plötz-
lich nicht mehr da und mit ihm tvaren auch die
inoralische Unruhe, die verdrießlichen Hirnge-
spinnste verschwunden, die das stets rügende
und verdammende Gewissen beständig begleiteten.
Man konnte jetzt fröhlich und wohlgemuth die
herrliche Gotteswelt genießen und die Weisen er-
kannten erst jetzt, daß sie endlich von dem letzten
Joch befreit waren, das ihr Borwärtsschreiten
bisher noch gehemmt hatte. Natürlich benutzten
sie nun die Früchte ihrer Freiheit. Die Menschen
geriethen außer Rand und Banden, plünderten,
raubten und verheerten alles.

Das arme, bespeite, mit Füßen getretene und
zerrissene Gewissen lag auf der Straße. Alle
Vorübergehenden stießen es lvie einen nutzlosen
Fetzen zur Seite, Jeder wunderte sich, daß au
der frequentesten Straße einer Residenz ein so
garstiges Ding geduldet wurde. Gott weiß, wie
lange das arme, geschmähte Gewissen noch da-
gelegen hätte, wäre nicht ein elender Trunken-
bold gekommen, der in seinem Dusel es nicht
verschmähte diesen Fetzen aufzuheben, um viel-
leicht ein Gläschen Schnaps dafür einzutauschen.

Nun aber fühlte er plötzlich, wie ihn ein elek-
trischer Strom durchzuckte. Mit trüben Augen
starrte er vor sich hin; die Braimtweindünste,

die ihn benebelten, verflüchtigten sich und nach
und nach kam die bittere Erkenntniß der Wirk-
lichkeit zum Durchbruch. Zuerst übermannte
ihn die Angst, ein dumpfer Schrecken, der ihn in
Unruhe versetzte und ihm eine drohende Gefahr
verkündete; dann regte sich das Gedttchtniß und
die Phantasie begann zu arbeiten. Aus der
Finsterniß seiner sündhaften Vergangenheit holte
das Gedächtniß schonungslos die Erinnerung
an seine Ausschweifungen, seine Treulosigkeit
und Trägheit hervor; die Phantasie belebte diese
Vergangenheit — und der Richter in ihm er-
wachte.

Sein ganzes Vorleben erschien nun lvie eine
ununterbrochene Reihe von Verbrechen. Er
konnte sich weder verantworten noch vertheidigen,
er war von den sich vor ihm aufthürmenden
Beweisen seiner Verworfenheit so sehr erdrückt,
daß seine freiwillige Selbstverurtheilung ihn weit
schmerzhafterund strenger strafte, als das strengste
llrtheil der Menschen. Er dachte nicht daran,
daß der größte Theil seiner Vergangenheit, die
er jetzt verwünschte, gar nicht ihm, dem elenden,
kläglichen Trunkenbold, zur Last falle, sondern
einer mysteriösen, grauenvollen Macht, die ihn,
den Willenlosen, umhcrgeworfen hatte, wie der
Wirbelwind den schwachen Grashalm. Worin
bestand denn eigentlich seine Vergangenheit?
Weshalb verlebte er sie so und nicht anders?
Was ist er selbst? Lauter Fragen, vor denen
er bewußt- und rathlos dastand. Es war das
Joch, das sein Leben beherrschte, unter dem Joche
ward er geboren, unter dem Joche wird er auch
in's Grab fahren. Erst jetzt erwachte in ihm
das Bewußtsein, aber wozu nützte es ihm jetzt?
Erwachte es etwa deshalb, um ihm mitleidslose
Fragen vorzulegen und sie mit Schweigen zu
beantworten? Etwa deshalb, damit sein ruin-
irtes Leben auf's neue Hineinströme in den zer-
störten Tempel seiner Seele, die diese Last nicht
mehr ertragen kann?

Wehe! Das erwachte Bewußtsein bringt ihm
weder Frieden noch Hoffnung; das peinigende
Gewissen zeigt ihm nur eine« Ausweg — den
der fruchtlosen Selbstverdammung. Vorher um-
gab ihn Finsterniß, und die nämliche Finsterniß
umgibt ihn auch jetzt noch, nur daß sie jetzt von
quälenden Gespenstern bevölkert ist; schon früher
klirrten schwere Ketten an seinen Handgelenken
und auch jetzt fühlt er sie, nur scheinen sie ihm

letzt doppelt so schwer zu sein, denn er ist sich
ihrer bewußt. Nutzlose Thränen rinnen aus
seinen Augen und die guten Leute bleiben vor
ihm stehen und sagen, der Branntwein habe sie
ihm nusgepreßt.

„Hilfe! Ich kann es nicht länger ertragen!"
schreit der elende Trunkenbold, und der Pöbel
lacht und spottet über ihn. Er begreift nicht,
daß der Trunkenbold noch niemals so nüchtern
war wie jetzt, daß es nur ein unseliger Fund
ist, der sein armes Herz zerfleischt. Hätte dieser
Pöbel den Fund selbst gemacht, dann würde er
einsehen, daß es einen Gram gibt, der alle
Leiden übertrifft, den Gram, den ein unverhofft
gefundenes Gewissen erzeugt. Der Pöbel würde
daun begreifen, daß er ebenso unterjocht und
verkrüppelt ist, wie dieser moralisch verkrüppelte,
wehklagende Trunkenbold.

„Rein, ich muß es irgendwie loszuwerdeu
suchen, sonst verkomme ich wie ein Hund!" denkt
der elende Trunkenbold und will seinen Fund
wieder wegwerfen. Aber ein hinzugekommener
Gcrichtsdiener hindert ihn daran.

„He, Freundchen," rust er ihm drohend zu,
„Du willst wohl verbotene Schmähschriften ver-
breiten! Nimm Dich in Acht, daß Du dafür
nicht in's Loch gesteckt wirst."

Der Trunkenbold verbarg nun seinen Fund
und cntsernte sich eiligst. Vorsichtig blickte er
umher und schlich zur Branntweinschenke hin, wo
sein alter Freund Prochorytsch wirthschastete. Er
schaut vorsichtig in's Fenster hinein und als er
den Schenkwirth allein, hinterm Ladentisch
schlummernd erblickt, öffnet er die Thür, stürzt
hinein und ehe noch Prochorytsch sich besinnen
kann, liegt schon der verhängnißvolle Fund in
seinen Händen.

Mit weit aufgerissenen Augen stand nun der
Schenkwirth eine Weile da, dann sing er an zu
schwitzen. Es schien ihm nun, als ob er seine
Wirthschast ohne obrigkeitliche Bewilligung be-
treibe; doch überzeugte er sich sofort, daß alle
erforderlichen Patenlzeugnisse vorhanden waren.
Dann blickte er auf den in seinen Händen be-
findlichen Fetzen und erkannte ihn.

„He, he!" rief er nun aus, „das ist ja der-
selbe Lumpen, den ich vor der Entrichtung meiner
Accise- und Patentgebühren mit Mühe und Roth
los wurde! Ja, wirklich, es ist derselbe."

Nun wurde es ihm plötzlich klar, daß er sich
selbst zu Grunde richteit müsse.

„Wenn Jemand ein lrikratives Geschäft be-
treibt und er sich von diesem Monstrum nicht
befreien kann, so ist er verloren! Mit dem
Profitmachcn ist's dann vorbei und das Geschäft
geht in die Brüche!" so sprach er zerstreut vor
sich hin, erblich und sing an zu zittern, als ob
ihn ein unerwarteter Schreck überwältigt hätte.

„Es ist doch eine unverantwortliche Gemein-
heit, das arme Volk dem Sausteufel in den
Rachen zu jagen!" flüsterte ihm das erwachende
Gewissen zu.

„Ariua Jwanowna, Weib!" rief er nun, vor
Angst außer sich.

Arina erschien, und als sie nun den Fund
erblickte, schrie sie aus Leibeskräften: „Hilfe!
Räuber! Diebe!"

„Weshalb muß ich nun, um dieses Hallunken
willen, alles was ich habe, plötzlich verlieren?"
dachte Prochorytsch, offenbar den Trunkenbold
meinend, der ihm so hinterlistig diesen Fund in
die Hand gespielt hatte. Große Schweißtropfen
traten auf seine Stirn.

Nun füllte sich die Schenke mit allerhand
Volk, aber Prochorytsch, anstatt seine Gäste mit
bekannter Liebenswürdigkeit zu bedienen, weigerte
sich nicht nur, ihnen Branntwein einzuschenken,
sondern er bewies ihnen sogar auf's eindring-
lichste, daß der Branntwein die Quelle des Ver-
derbens für das arme Volk sei,

M
Index
Fritz Erler: Zeichnung ohne Titel
M. J. Ssaltykow-Schtschedrin: Das verlorene Gewissen
 
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