1898
JUGEND
Nr. 5
„Ja, wenn Du blos ein Gläschen trinken
würdest, so könnte man sich das noch gefallen
lassen, es wäre vielleicht sogar nützlich!" sprach
er mit thränenden Augen, „so aber möchtest Du
lieber einen ganzen Eimer voll aussaufen! Und
was folgt daraus? Man bringt Dich zur Polizei,
zieht Dir die Hosen ab und zählt Dir eine Tracht
Prügel aus. Kommst Du dann wieder frei, so
meinst Du vielleicht eine große Belohnung er-
halten zu haben? Es waren aber blos hundert
Ruthenhicbe. Denke also erst nach, mein Lieber,
ob es sich auch lohnt danach zu streben und über-
dies noch mir altenr Narren Geld dafür zu be-
zahlen
„Was sicht Dich an, Prochorytsch, Du bist
wohl verrückt geworden?" erwiderten ihm die
verblüfften Gäste.
„Wenn es Dir so gegangen wäre, wie mir,
dann würdest Du auch den Verstand verloren
haben! — Da, sich mal, was ich sür einen Schatz
gekriegt habe!"
Prochorytsch zeigte nun Allen das ihm un-
verhofft zugcstcckte Gewissen und fragte, ob nicht
Jemand es haben wolle. Als mau aber das
verdächtige Ding sah, lvollte es nicht nur Keiner
haben, sondernAlle wandten sich ab und retirirten.
„Was wirst Du nun aber thun, Prochorytsch?"
fragten ihn die Gäste.
„Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als zu
sterben. Denn betrügen kann ich nicht mehr
und das arme Volk in Branntwein ertränken
will ich nicht, — folglich mutz ich sterben!"
„Ganz richtig!" sprachen die Gäste, spöttisch
lächelnd.
„Ich möchte nun," fuhr Prochorytsch fort,
„alles Geschirr hier zertrümmern und den Brannt-
wein auslaufcn lassen. Denn, >ver wie ich, tugend-
haft geworden ist, der kann den Fuselgeruch nicht
mehr ertragen, er verursacht ihm Ekel!"
„Unterstehe Dich!" rief nun Arina, die von
dem Segen, den Prochorytsch empfangen hatte,
tinberührt geblieben war, — „seht mal diesen
Tugendbold an!"
AbcrProchorytsch bestand hartnäckig aufseincm
Vorhaben, er weinte bitterlich und wiederholte
E. Barlach (Friedrichroda).
Fritz Erl er.
immer das nämliche. „Denn," fügte er hinzu,
„wem ein solches Unglück widerfahren ist, der
kann sich nicht damit entschuldigen, datz er Kneip-
wirth ist, sondern er mutz sein Leben lang un-
glücklich bleiben."
Diese philosophischen Betrachtungen währten
den ganzen Tag und obwohl sich Arina stand-
haft weigerte, das Geschirr zertrümmern und
den Branntwein auslaufcn zu lassen, so wurde
an diesem Tage doch kein Tropfen Schnaps ver-
kauft. Gegen Abend war Prochorytsch sogar heiter
geworden und sagte zu seiner weinenden Arina:
„Nun, meine liebe, theure Gattin, wenn wir
heute auch nichts verdient haben, so ist mir doch,
im Besitze des Gewissens, recht leicht um's Herz."
Und wirklich, er schlief auch bald so fest ein, datz
er weder träumte noch schnarchte, was ihm sonst
doch häufig passirt war, als er noch Geld ver-
diente, aber gewissenlos war.
Seine Frau beschäftigten aber ganz andere
Gedanken. Sie meinte, für einen Schnapswirth
könne das Gewissen nur schädlich und verlust-
bringend sein; dieser ungebetene Gast müsse da-
her unbedingt aus dem Hause. Mit diesem Vor-
haben durchwachte sie die ganze Nacht, und als
das erste Tageslicht durch die verstaubten Fenster-
scheiben dämmerte, stahl sie dem schlafenden
Gatten das Gewissen und lief damit auf die
Straffe hinaus.
Es lvar grade Markttag. Aus beit Dörfern
kamen die Bauern mit ihren Fuhren. Der
Polizeioffizier Lowez ging eben nach den, Markt-
platz. Als Arina ihn sah, siel ihr plötzlich ein
glücklicher Gedanke ein. Sie lief dem Polizisten
nach und es gelang ihr, ihm das Gewissen in
die Tasche seines Ueberrocks zu stecken.
Lowez war nicht grade einer von den Un-
verschämtesten, aber er legte sich auch nicht gerne
Zwang auf und liebte cs, seine Klaue überall
hinein zu stecken. Was seinen Augen gesiel,
daran blieben leicht seine Hände kleben — kurz
er war ein rücksichtsloser Erpresser.
Plötzlich empfand nun dieser Mensch eine
ungewohnte Unruhe. Auf dem Marktplatz schien
ihm alles, lvas er sah, als ob es nicht ihm,
sondern Anderen gehöre, — das war früher nie-
mals vorgekommcn. Er wischte sich die scham-
losen Augen aus und dachte: „Was kann das
nur sein? Bin ich stumpfsinnig geworden oder
träutne ich?" Er trat nun an eine Fuhre heran
und versuchte seine Hand hineinzustecken — aber
die Hand rührte sich nicht; bei einer anderen
Fuhre ging es ihm ebenso. Er wollte einen
Bauer am Bart packen und ihn tüchtig zausen —
wunderbar! Die Hand versagte ihm den Dienst.
Er erschrak.
„Was mir nur heute passirt sein mag!"
dachte er. „Geht das so fort, so ist meine ganze
Existenz beim Teufel! Ob ich nicht lieber nach
Hause zurückkehre?"
Er hoffte aber immer noch, dieser unbegreif-
liche Zustand werde vorübergehen und spazierte
nun überall umher; da und dort sah er Geflügel
und verschiedene andere delikate Leckerbissen, aber
sic schienen ihn nur zu verhöhnen und er getraute
sich nicht, sie anzurühren.
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JUGEND
Nr. 5
„Ja, wenn Du blos ein Gläschen trinken
würdest, so könnte man sich das noch gefallen
lassen, es wäre vielleicht sogar nützlich!" sprach
er mit thränenden Augen, „so aber möchtest Du
lieber einen ganzen Eimer voll aussaufen! Und
was folgt daraus? Man bringt Dich zur Polizei,
zieht Dir die Hosen ab und zählt Dir eine Tracht
Prügel aus. Kommst Du dann wieder frei, so
meinst Du vielleicht eine große Belohnung er-
halten zu haben? Es waren aber blos hundert
Ruthenhicbe. Denke also erst nach, mein Lieber,
ob es sich auch lohnt danach zu streben und über-
dies noch mir altenr Narren Geld dafür zu be-
zahlen
„Was sicht Dich an, Prochorytsch, Du bist
wohl verrückt geworden?" erwiderten ihm die
verblüfften Gäste.
„Wenn es Dir so gegangen wäre, wie mir,
dann würdest Du auch den Verstand verloren
haben! — Da, sich mal, was ich sür einen Schatz
gekriegt habe!"
Prochorytsch zeigte nun Allen das ihm un-
verhofft zugcstcckte Gewissen und fragte, ob nicht
Jemand es haben wolle. Als mau aber das
verdächtige Ding sah, lvollte es nicht nur Keiner
haben, sondernAlle wandten sich ab und retirirten.
„Was wirst Du nun aber thun, Prochorytsch?"
fragten ihn die Gäste.
„Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als zu
sterben. Denn betrügen kann ich nicht mehr
und das arme Volk in Branntwein ertränken
will ich nicht, — folglich mutz ich sterben!"
„Ganz richtig!" sprachen die Gäste, spöttisch
lächelnd.
„Ich möchte nun," fuhr Prochorytsch fort,
„alles Geschirr hier zertrümmern und den Brannt-
wein auslaufcn lassen. Denn, >ver wie ich, tugend-
haft geworden ist, der kann den Fuselgeruch nicht
mehr ertragen, er verursacht ihm Ekel!"
„Unterstehe Dich!" rief nun Arina, die von
dem Segen, den Prochorytsch empfangen hatte,
tinberührt geblieben war, — „seht mal diesen
Tugendbold an!"
AbcrProchorytsch bestand hartnäckig aufseincm
Vorhaben, er weinte bitterlich und wiederholte
E. Barlach (Friedrichroda).
Fritz Erl er.
immer das nämliche. „Denn," fügte er hinzu,
„wem ein solches Unglück widerfahren ist, der
kann sich nicht damit entschuldigen, datz er Kneip-
wirth ist, sondern er mutz sein Leben lang un-
glücklich bleiben."
Diese philosophischen Betrachtungen währten
den ganzen Tag und obwohl sich Arina stand-
haft weigerte, das Geschirr zertrümmern und
den Branntwein auslaufcn zu lassen, so wurde
an diesem Tage doch kein Tropfen Schnaps ver-
kauft. Gegen Abend war Prochorytsch sogar heiter
geworden und sagte zu seiner weinenden Arina:
„Nun, meine liebe, theure Gattin, wenn wir
heute auch nichts verdient haben, so ist mir doch,
im Besitze des Gewissens, recht leicht um's Herz."
Und wirklich, er schlief auch bald so fest ein, datz
er weder träumte noch schnarchte, was ihm sonst
doch häufig passirt war, als er noch Geld ver-
diente, aber gewissenlos war.
Seine Frau beschäftigten aber ganz andere
Gedanken. Sie meinte, für einen Schnapswirth
könne das Gewissen nur schädlich und verlust-
bringend sein; dieser ungebetene Gast müsse da-
her unbedingt aus dem Hause. Mit diesem Vor-
haben durchwachte sie die ganze Nacht, und als
das erste Tageslicht durch die verstaubten Fenster-
scheiben dämmerte, stahl sie dem schlafenden
Gatten das Gewissen und lief damit auf die
Straffe hinaus.
Es lvar grade Markttag. Aus beit Dörfern
kamen die Bauern mit ihren Fuhren. Der
Polizeioffizier Lowez ging eben nach den, Markt-
platz. Als Arina ihn sah, siel ihr plötzlich ein
glücklicher Gedanke ein. Sie lief dem Polizisten
nach und es gelang ihr, ihm das Gewissen in
die Tasche seines Ueberrocks zu stecken.
Lowez war nicht grade einer von den Un-
verschämtesten, aber er legte sich auch nicht gerne
Zwang auf und liebte cs, seine Klaue überall
hinein zu stecken. Was seinen Augen gesiel,
daran blieben leicht seine Hände kleben — kurz
er war ein rücksichtsloser Erpresser.
Plötzlich empfand nun dieser Mensch eine
ungewohnte Unruhe. Auf dem Marktplatz schien
ihm alles, lvas er sah, als ob es nicht ihm,
sondern Anderen gehöre, — das war früher nie-
mals vorgekommcn. Er wischte sich die scham-
losen Augen aus und dachte: „Was kann das
nur sein? Bin ich stumpfsinnig geworden oder
träutne ich?" Er trat nun an eine Fuhre heran
und versuchte seine Hand hineinzustecken — aber
die Hand rührte sich nicht; bei einer anderen
Fuhre ging es ihm ebenso. Er wollte einen
Bauer am Bart packen und ihn tüchtig zausen —
wunderbar! Die Hand versagte ihm den Dienst.
Er erschrak.
„Was mir nur heute passirt sein mag!"
dachte er. „Geht das so fort, so ist meine ganze
Existenz beim Teufel! Ob ich nicht lieber nach
Hause zurückkehre?"
Er hoffte aber immer noch, dieser unbegreif-
liche Zustand werde vorübergehen und spazierte
nun überall umher; da und dort sah er Geflügel
und verschiedene andere delikate Leckerbissen, aber
sic schienen ihn nur zu verhöhnen und er getraute
sich nicht, sie anzurühren.
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