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1898

JUGEND -

Nr. 5

Zauberflöte

H. M. Lilien (München).

lict) wieder ganz anders zumuthe. Er sah die
Bettlerschaar ans dein Hose. Was konnte daS
wohl bedeuten? Sollten sic alle vielleicht durch-
gepeitscht werden?

„Was soll das Volk hier?" schrie er hinaus eilend.
. „Welche Frage! Das sind ja die Armen, die
vf) speisen soll!" entgegnete ihm giftig sein Weib.

„Jagt sie hinaus! Haut sie! Marsch fort!"
rief er wüthend und lief wie verrückt in's Haus
zurück.

Lange dachte er nun nach, ivaS ihm Ivohl
Passirt sein konnte. Er war doch sonst immer
ein ordentlicher Mensch und musterhafter Beamter
gewesen — und nun war er plötzlich solch' ein
Waschlappen geworden!

„Fedoßja Petrowna, Mütterchen, binde mich
doch um Christi willen! Ich fühle, daß ich
Dinge angebe, die ich in einem ganzen Jahr
nicht wieder gut machen kann!" flehte er.

Auch seine Frau sah ein, das; cs ihrem Mann
an den Kragen gehe. Sie kleidete ihn aus,

brachte ihn in's Bett und lies; ihn Thee trinken.
Dann ging sie in's Vorzimmer und dachte:
will doch mal im Ueberrock Nachsehen, vielleicht
finden sich dort noch ein Paar Groschen. Sie
dnrchstöberte die Taschen und fand in der einen
den leeren Geldbeutel; aus der andern zog sie
einen schmutzigen Papierfetzen hervor. Als sie
ihn auseinander faltete, war sie erstarrt.

„Also mit solchen Dingen gibt er sich jetzt
ab!" flüsterte sie, „das Gewissen schleppt er mit
sich in der Tasche herum!"

Nun dachte sie nach, wie sie das Ding wohl
wieder loswerden könne und zwar so, das; cS
dem Empfänger nicht gar zu viel Schmerzen,
sondern nur ein wenig Unruhe verursache. End-
lich entschied sie sich für den ehemaligen Brannt-
weinpächter, jetzigen Finanzmann und Eisenbahn-
unternehmer Schmncl Brshozky, und meinte, bei
dem wäre es am besten aufgehoben.

„Er hat einen starken Nacken, und wird er auch
ein Bischen zappeln, so schadet ihm das nicht."

Sic steckte nun daS Gewissen vorsichtig in
ein Stempelcouvert, schrieb Brshozkys Adresse
darauf und steckte es in den Briefkasten.

„So, Freundchen, jetzt kannst Du wieder ruhig
auf den Markt gehen," sagte sie und kehrte zu
ihrem Mann zurück.

*> * *

Schmuel Brshozkt, saß, von seiner ganzen
Familie umgeben, am Mittagtisch. Neben ihm
saß sein zehnjähriger Sohn Rüben, mit dem
Lösen einer finanziellen Aufgabe beschäftigt.

„Papalebcn, sage mir doch, wieviel Geld er-
halte ich am Ende des Jahres, wenn ich dies
Goldstück, daS Du mir geschenkt hast, zu 20 Per-
cent monatlich ansborge?" fragte er.

„Wie meinst Du das, mein Sohn, mit ein-
sachen odcr mitZinscszinsen?" fragte nun Schmncl.

„Natürlich mit Zinseszinsen, Papaleben!"

„Wenn Du Zinseszinsen berechnest und die
Brüche abwirsst, so erhältst Du bis zum Ende
dcS Jahres 40 Rubel und 70 Kopeken."

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Ephraim Moses Lilien: Zauberflöte
 
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