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Kr. 5

1898

„Ich werde cilfo das Goldstück so ausborgen."

„Thue das, mein Sohn, vergiß aber nicht,
ein zuverlässiges Pfandobjekt zu nehmen."

An Schniuels andrer Seite saß Jossel, ein
Knabe von sieben Jahren, der gleichfalls eine
Rechenaufgabe loste; dann kamen Saloinon und
David,- die sich stritten, wieviel Zinsen Einer
dem Andern für geborgte Bonbons vergüten
müsse. Am andern Tischende saß Schniuels
schöne Gattin Lea Salomonowna mit ihrer kleinen
Rahel auf dem Schooße, die instinktiv ihre Hünd-
chen nach Mamas kostbarem goldenen Armreif
ausstreckte.

Kurz und gilt — Schmuel war ein glück-
licher Familienvater. Eben wollte er eine delikate
Sauce über seinen Braten gießen, da brachte
ihm der Diener auf silbernem Präsentierteller
einen Brief.

Kaum hatte ihn Schmuel angefaßt, da ließ
cs ihm keine Ruhe mehr; er krümmie und wand
sich wie ein Aal auf glühenden Kohlen.

„Was ist das nur! Wozu brauche ich denn
dies Ding da!" stöhnte er und zitterte am ganzen
Körper.

Obschon Niemand begriff, was eigentlich ge-
schehen war, erkannten doch alle sofort, daß das
Mittagessen unterbrochen werden müsse.

Die Qual und Pein, die Schmuel an diesem
denkwürdigen Tage ausstand, ist nicht zu be-
schreiben; nur Eines muß konstatirt werden:
trotz der unglaublichsten Folterqualen entschloß
er sich nicht, auch nur 15 Kopeken zu opfern.

„Das schadet mir nichts, wird schon wieder
vergehen! Halte mich nur recht fest, Lea," sagte
er zu seiner Gattin, während ihn die verzweifelt-
sten Paroxismen schüttelten, — „und wenn ich
meine Schatulle verlange, so gib sie mir ja
nicht, — lieber will ich sterben!"

Da es jedoch keine so schwierige Lage gibt,
aus der nicht auch ein Ausweg zu finden >väre, so
fand man auch diesmal einen. Schmuel
erinnerte sich, daß er für eine Wvhl-
thätigkeitsanstalt, deren Vorsteher ein
General aus seiner Bekanntschaft war,
längst schon eine Spende versprochen
hatte, die aber immer von einem Tag
zum andern verschoben worden war.

Nun bot sich eine günstige Gelegen-
heit, den längst gefaßten Vorsatz aus-
zuführen.

Gedacht — gethan. Schmuel öffnete
vorsichtig das erhaltene. Couvert, nahm
das darin befindliche Papier mit einem
Züngelchen heraus, steckte es in ein
anderes Couvert, fügte noch einen
Hundertrubelschein hinzu, versiegelte
es und begab sich damit zu dem be-
freundeten General.

„Excellenz, ich wünsche etwas für
Ihre Anstalt zu spenden!" sagte er
und legte das Couvert vor dem er-
stellten General aus den Tisch.

„Nun schön, das ist lobenswerth!"
erwiderte dieser — „ich wußte ja, daß
Sie als Israelit. .. nach dem Gesetze
Davids ... nicht wahr, so ist es doch?"

Der General wußte nicht, wie er die ange-
fangene Phrase beenden solle und ob es David
oder sonst wer war, von dein die Gesetze her-
rührten.

„Ganz recht, Excellenz, aber was finb wir
denn für Israeliten," siel Schmuel ein, der sich
Nun leicht und frei fühlte, „wir sind ja nur
äußerlich .Israeliten, im Herzensgründe aber
sind wir echte, gute Russen."

„Dqnke, danke!" sagte der General, „aber ich
bedaure nur . . . als Christ.. . weshalb sollten
Sie z. B. nicht . . . he, was meinen Sie!"

„Excellenz! wirklich . . . nur äußerlich sind
wir Israeliten. . . glaubeit Sie es tnir . . .
aus Ehre!"

„Aber dennoch . . ."

„Excellenz!"

„Nun, nun, schon gut! Christus sei mit
Ihnen!"

Schnmcl eilte nun wie auf Fliigeln nach
Hause. Noch nm nämlichen Abend hatte er alle
ausgestandenen Leiden vergessen und konnte so-
gar eine finanzielle Combination beenden, die
am nächsten Tage, als sie bekannt wurde, all-
gemeines Erstaunen hervorrief.

So wanderte nun das arme, verschmähte
Gewissen von Einem zum Andern und kam zu
Tausenden voit Menschen, aber niemand ivollte
es behalten und jeder suchte es so bald als mög-
lich, sogar durch List und Betrug, loszuwerden.
Schließlich wurde es dem armen Ding doch gar
zu mühselig, sich noch länger unter fremden
Menschen herumzutreiben ohne eine bleibende
Stätte zu finden, wo es ausruhen könne. Es

sprach daher zu seinem letzten Inhaber, einem
elenden Krämer, der in einem obscuren Winkel
mit Staub handelte und auf keinen grünen
Zweig kommen konnte:

„Weshalb quält Ihr mich eigentlich, weshalb
behandelt Ihr mich wie einen unnützen Wisch?"...

„Aber was soll man denn mit Dir ansangen?
. . . Wenn Dich doch keiner haben will?" . . .
fragte nun die arme Krämerseele.

„Ich werd' es Dir sagen," erwiderte das
Gewissen. „Suche mir ein kleines Kindlein,
öffne ihm sein reines Herzchen und verbirg mich
darin. Das unschuldige Wesen tvird mich be-
hüten, warten und pflegen; es wird mit mir
wachsen und auch dann, wenn es zu Macht und
Ansehn gelaugt, sich meiner nicht schämen."

Und so geschah es auch. Der Krämer fand
ein Kindlein, öffnete ihm sein reines Herzchen
und verschloß darin das Gewissen.

Nun wächst das Kindlein und in ihm das
Gewissen. Wenn nun aus dem Kinde ein großer
Mann wird, dann hat er auch ein großes Ge-
wissen. Falschheit, Egoismus, Arglist und rohe
Gewalt verschwinden alsdann, denn das Ge-
wissen wird dann nicht mehr schüchtern, sondern
geachtet und mächtig sein und überall herrschen
wollen. (Deutsch von Wilhelm Henckcl.)

Mit dem Lselskinndack

III. Lernäifche Pfeile
Famose Aerzte

Was Ihr nach Eurer Methode kuriert,
Gekündet ohne Verweilen, —

Weil Ihr dir Wunden erst dann beschmiert,
Wenn sie von selber heilen!

Volkswirrhschaftlichee Norhwcndig-
kcitsbcweis

G Glück, nun weiß ich doch,

warum wir frierend lungern;
Haarklein bewies man mir's. —
Jetzt wist ich gern verhungern!

Schulbehördenpädagogik
(Den unzufriedenen Lehrern)

Ihr wagt. Euch zu beklagen?

Gebt acht, wie's thnt!

— Gleich werdet ihr zwölfmal sagen:
„Es geht uns gut!"

Martprlumspolmk

Gottleer die Welt? Du glaubst es
nicht, wie heut

Sich jeder auf ein „Martyrium"

J. R. Witzei (München).

freut!

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Register
[nicht signierter Beitrag]: Mit dem Eselskinnback
Julius Diez: Macht der Finsterniss
Josef Rudolf Witzel: Zeichnung ohne Titel
 
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