Nr. 6
1898
. JUGEND .
Otholia Gräfin Kraszewska (München).
von Liebe und Ehe
Betrachtungen von Dtto Julius Bicrbaum
II.
was wissen denn die Leute von Liebe,
die noch von „Verzeihen" reden? I Liebe
nimmt hin.
wer Phantasie hat und schnell suggcs-
tibcl ist, legt oft in ganz gewöhnliche Ge-
mälde einen großen Sin» und reiche Be>
dcutsamkcit. Man mag ihn um dieser Gabe
willen glücklich schätzen, falls er sich nicht
etwa verleiten läßt, die schlechten Bilder
zu kaufen, wehe, wenn sic in seinen Zim-
mern hängen I wehe, wenn er sie an Tagen
sehen muß, wo seine Phantasie müde und
seine Seele nicht suggestibcl istl Acrgcr
ist sein Thcil. Aber immerhin: er kann
sic, wenn auch mit Verlust, wieder verkam
fcn, oder, wenn sie lssicmand kaufen will,
kann er sie seiner Waschfrau schenken.
Aber: wenn Einem so was mit einer
Frau passirt?! Ernüchterte Phantasie ist
kein Schcidungsgrund . . . Das gibt die
schauderhaftesten Ehen, wenn nicht an Stelle
der phantasiegeschautcn Gualiräten andere,
reale an den Tag kommen. Zuweilen be-
schwichtigt der Magen das enttäuschte Herz,
und schon mancher hat schließlich mit einer
guten Röchln fürlieb genommen, der vorher
eine Psyche träumte.
Die meisten jungen Mädchen lesen Lie-
beslyrik wie Liebesbriefe, die an sie ge-
richtet sind, und, da cs bei Liebesbriefen
nicht auf de» Stil, sondern auf das Gefühl
ankonrmt, sehen sie bei Liebesgedichte» nicht
so sehr auf die Runst, als auf den Schwung.
Mit dieser merkwürdigen Manier der jungen
Nlädchcn, Liebeslyrik zu lesen, hängt cs
übrigens zusammen, daß ein Lyriker an
Wirkung auf ledige junge Damen cinbüßt,
sobald es ruchbar wird, daß er vcrheirathet
ist oder keinen Schnurrbart hat. Daß
Goethe ein so schöner Mann und so lange
unverheirathcr gewesen ist, hat bei seinen
Lebzeiten stark zu seiner Beliebtheit bei
den jungen Mädchen beigctragcn, — Ucbri-
gcns ist das ein Beitrag zum Rapitel der
angewandten Runst.
Ein gewisses Maß von Narurvcrküm-
merung ist die norhwcndigc Voraussetzung
zur Rultur. Ein gewisses Maß von per-
sönlichkcitsvcrkümmcrung ist die nokhwcn-
dige Voraussetzung zur Ehe. Damit ist
aber weder etwas gegen die Rultur, noch
gegen die Ehe gesagt
Es gibt recht viele Ehepaare, die ihr
Vcrhältniß kur; in den Satz zusammcn-
fasscn können: wir können uns nicht leiden,
aber von einander lassen können wir auch
nicht.
Disharmonisch
Von Henri Masel
Auf der Thürschwelle blieb er in dem
Auf- und Abwogen eines Walzerschlusses
stehen — dann, einen Entschluss fassend,
ging er auf die Dame zu, die er lange be-
trachtet hatte, ohne dass sie es zu bemerken
schien, eine etwas starke, aber noch junge
Blondine mit sanften, tiefen Augen, auf die
von Zeit zu Zeit zwei kleine Mädchen zu-
eilten, die sie auf die Stirne küsste.
Und vor ihr angelangt, verbeugte er sich,
correct, sanft, die Schläfen schon gelichtet,
die Augen halb durch die Gläser verschleiert:
„Gnädige Frau,“ sagte er, „ich habe diese
Stadt vor zehn Jahren verlassen, aber so in-
tensiv waren damals meine Eindrücke, dass
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1898
. JUGEND .
Otholia Gräfin Kraszewska (München).
von Liebe und Ehe
Betrachtungen von Dtto Julius Bicrbaum
II.
was wissen denn die Leute von Liebe,
die noch von „Verzeihen" reden? I Liebe
nimmt hin.
wer Phantasie hat und schnell suggcs-
tibcl ist, legt oft in ganz gewöhnliche Ge-
mälde einen großen Sin» und reiche Be>
dcutsamkcit. Man mag ihn um dieser Gabe
willen glücklich schätzen, falls er sich nicht
etwa verleiten läßt, die schlechten Bilder
zu kaufen, wehe, wenn sic in seinen Zim-
mern hängen I wehe, wenn er sie an Tagen
sehen muß, wo seine Phantasie müde und
seine Seele nicht suggestibcl istl Acrgcr
ist sein Thcil. Aber immerhin: er kann
sic, wenn auch mit Verlust, wieder verkam
fcn, oder, wenn sie lssicmand kaufen will,
kann er sie seiner Waschfrau schenken.
Aber: wenn Einem so was mit einer
Frau passirt?! Ernüchterte Phantasie ist
kein Schcidungsgrund . . . Das gibt die
schauderhaftesten Ehen, wenn nicht an Stelle
der phantasiegeschautcn Gualiräten andere,
reale an den Tag kommen. Zuweilen be-
schwichtigt der Magen das enttäuschte Herz,
und schon mancher hat schließlich mit einer
guten Röchln fürlieb genommen, der vorher
eine Psyche träumte.
Die meisten jungen Mädchen lesen Lie-
beslyrik wie Liebesbriefe, die an sie ge-
richtet sind, und, da cs bei Liebesbriefen
nicht auf de» Stil, sondern auf das Gefühl
ankonrmt, sehen sie bei Liebesgedichte» nicht
so sehr auf die Runst, als auf den Schwung.
Mit dieser merkwürdigen Manier der jungen
Nlädchcn, Liebeslyrik zu lesen, hängt cs
übrigens zusammen, daß ein Lyriker an
Wirkung auf ledige junge Damen cinbüßt,
sobald es ruchbar wird, daß er vcrheirathet
ist oder keinen Schnurrbart hat. Daß
Goethe ein so schöner Mann und so lange
unverheirathcr gewesen ist, hat bei seinen
Lebzeiten stark zu seiner Beliebtheit bei
den jungen Mädchen beigctragcn, — Ucbri-
gcns ist das ein Beitrag zum Rapitel der
angewandten Runst.
Ein gewisses Maß von Narurvcrküm-
merung ist die norhwcndigc Voraussetzung
zur Rultur. Ein gewisses Maß von per-
sönlichkcitsvcrkümmcrung ist die nokhwcn-
dige Voraussetzung zur Ehe. Damit ist
aber weder etwas gegen die Rultur, noch
gegen die Ehe gesagt
Es gibt recht viele Ehepaare, die ihr
Vcrhältniß kur; in den Satz zusammcn-
fasscn können: wir können uns nicht leiden,
aber von einander lassen können wir auch
nicht.
Disharmonisch
Von Henri Masel
Auf der Thürschwelle blieb er in dem
Auf- und Abwogen eines Walzerschlusses
stehen — dann, einen Entschluss fassend,
ging er auf die Dame zu, die er lange be-
trachtet hatte, ohne dass sie es zu bemerken
schien, eine etwas starke, aber noch junge
Blondine mit sanften, tiefen Augen, auf die
von Zeit zu Zeit zwei kleine Mädchen zu-
eilten, die sie auf die Stirne küsste.
Und vor ihr angelangt, verbeugte er sich,
correct, sanft, die Schläfen schon gelichtet,
die Augen halb durch die Gläser verschleiert:
„Gnädige Frau,“ sagte er, „ich habe diese
Stadt vor zehn Jahren verlassen, aber so in-
tensiv waren damals meine Eindrücke, dass
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