hatte den Kops verloren. Sie legte immer mehr
von ihrem Körpergewicht auf mich, trat immer
wahnsinniger auf die Pedale los und umklam-
merte die Lenkstange immer verzweifelter. Und
wir sausten über das Staket und das Blumen-
beet, welches an der Mauer liegt, zertrampelten
eine Gruppe von Gladiolen, zerstampften einen
Kranz von Chrysanthemen zu Staub, köpften et-
liche stolze Sonnenblumen und brachten einem
prachtvollen Dijon-Noscnstock Tod und Verderben.
Der Letztere wehrte sich, zerriß mit seinen Dornen
meine Hosen und zerfleischte meine zarten Glie-
der. Wir galoppirten durch einen Lorbeerbusch
und schossen gegen die Gartenmauer, genau an
der Stelle, wo, meines Onkels Stolz und Freude,
ein früchtebeladener Pflaunienbanm stand. Auf
diesen stürzte die tollgcwordene Maschine mit weit-
aufgerissenem Nachen los und biß ihn entzwei.
Dann schleuderte sie Apollonia in die Glas-
scherben, welche die Gartenmauer krönten, warf
mich zu Boden in die verstreuten und zerquietsch-
ten Pflaumen, und wälzte sich dann selbst auf
mich, daß mir alle Glieder knackten.
Als sich Apollonia aus den Glasscherben her-
ausgelcsen hatte, fragte sie mich wuthschnaubend,
ob ich es vielleicht für einen guten Witz halte,
so mit einem Mädchen umzugeheu? Sie hätte
sich ihre Hände ganz zerkratzt und ich hätte alle
Arten von Blumen zerstört und überdies den
Lieblingspflaumenbaum ihres Vaters. Warum
ich nicht einfach in Gemiithlichkeit mit ihr rund
um die Wiese gefahren sei, während sie sich übte,
die Balance zu halten? Sonst hätte sie ja doch
weiter nichts verlangt. Ob ich am Ende zu schwach
sei für diese kleine Anstrengung ? „Sogar Nuggles
hätte sich geschickter angestcllt", fügte sic bei. —
„Dann lasse Dich doch ja das nächste Mal
von Ruggles führen!" sagte ich in wachsendem
Groll. Aber sie lenkte ein. Einmal wolle sie cs
noch mit niir versuchen.
Ich bedachte, daß Nuggles Familie hätte, die
am Ende verwaist Zurückbleiben könnte und opferte
mich zum dritten Mal. Es tvar der edelste Ent-
schluß meines Lebens. Apollonia erklomm das
Rad, während ich es festhielt — keine Kleinigkeit,
wenn man ihr imposantes Gcivicht bedenkt. Ich
kannte es; ich hatte es ja eben gefühlt.
„Dieses Mal, liebes Kind," begann ich, „Iverde
ich nicht eher den Versuch machen, das Rad zu
steuern, als bis Du einen heiligen Eid geschworen,
Dich nicht an die Lenkstange zu hängen. Machst
Du cs wie vorher, so ist Dir eine zweite Be-
steigung der Gartenmauer getviß. Also richte
Dich darnach — oder die Folgen aus Dein Haupt!"
Mein drohender Blick schüchterte sie offenbar ein.
Sie leistete den Eid.
„Aber ich darf mich doch auf Deinen Arm
stützen, Charlie?" Natürlich durste sie das. Und
jetzt gingen die Geschäfte auch besser. Wir kamen
zwei Mal mit heiler Haut um die Wiese — d. h.
Apollonia hatte die heile Haut: mir hatte das
Pedal das rechte Schienbein nahezu durchsägt;
aber ich tvar entschlossen, schlveigend zu dulden.
Beim dritten Kreislauf stolperte ich, das Vor-
derrad kam in's Schwanke» und ehe ich mich's
versah, hatte ich das Bieycle losgelassen und lag
auf dem Rücken im Tennisplatz. Als ich mich
erhoben hatte, bot sich mir ein Anblick — pracht-
voll und furchtbar zugleich. Apollonia und ihr
Rad waren etwa sechs Meter von mir weg und
noch immer beisammen; freilich war eine Trenn-
ung in kürzester Zeit vorauszusehen. Das Rad
hatte den direkten Weg nach dem großen Rosen-
bect eingeschlagen, ungerührt durch die Verzweif-
lung seiner Reiterin, bereu Gesicht von Todes-
angst verzerrt tvar. Sie beugte sich, dem Beete
näher gekommen, immer weiter »nd ivciter nieder,
als wollte sie an passant ein wenig an den Ro-
sen rieche», während die Maschine einen flotten
Bogen nach auswärts beschrieb, um am Rande
vorübcrzusegeln.
Niemals im Leben sah ich so was wieder.
Das Bieycle warf Apollonia mit der größten
Exaktheit und Eleganz in die Rosen und stürmte
dann schneidig allein weiter. Schot, sah ich cs
im Geist mit den Rädern ausschlagen und wiehernd
dem Stalle zusprengen — aber nein! Es legte
sich ruhig nieder in's weiche Gras. Seine Ab-
sicht, Apollonia losznwerden, war ihm ja geglückt,
und es war mit dein wohlgelungenen Werk zu-
frieden. Weniger Apollonia. Sie kroch aus den
Rosen hervor, ganz blaß vor Wuth. Mich wür-
digte sie weder eines Wortes noch eines Blicks;
sic ries nach Ruggles, dem Gärtner.
„Nuggles," sagte sie, über mich schnöde hin-
tvegblickend, „ich möchte gerne, daß Sie mir ein
tvcnig helfen. Mr. Atkins muß fortgehcn!"
Ruggles trat aus seinen Kohl- und Erdäpfel-
beeten hervor mit stark geröthetem Gesicht. —
Das kam wahrscheinlich vom Bücken. Er schaute
mich mit einem seltsam zwinkerndem Blicke an,
brauchte eine geraume Zeit dazu, das Rad auf-
zustellen, bog einiges Verbogene wieder gerade,
kehrte meiner Base den Rücken und schien unter
dem Einflüsse einer tiefen, seelischen Bewegung
zu stehen. Vielleicht hatte er entdeckt, daß an
den Pedalen nachzuckende Fetzen meines Fleisches
hinge» und zitterte für das seinige.
Ich verbeugte mich vor Apollonia und rief
ihr „Allheil!" zu. Dann trat ich dicht an Rug-
gles heran und sagte weich:
„Kommen Sie dann nur zu mir. Ich ver-
binde Sie, gebe Ihnen ein wenig Bor-Lint und
Heftpflaster. Und — sollte irgend ctivas Mensch-
liches passiven — Sie sollen ein anständiges Be-
gräbniß haben."
Ruggles ließ, von einem plötzlichen Husten-
anfall gepackt, das Rad noch einmal fallen. Er
war offenbar erkältet. Als ich ihn verließ, nestelte
er immer noch an dem Bieycle heruni.
Nach einigen Tagen sah ich ihn wieder und
er beichtete mir, >vie es ihm ergangen. Fräu-
lein Apollonia habe ihm „einige Spähnc" ab-
gcsprengt und sich merkwürdig viel mit den
Blumenbeeten beschäftigt. Der Herr Papa sei
wüthend gcivordcn, das Rad zu seinem Besitzer
zurückgctvandert und nie dürfe ein Bicyle mehr
dem geheiligten Bezirk jenes Gartens nahen.
Nichtsdestoweniger durchkreuzt Apollonia jetzt
die Straßen wie andere Damen — wie einige
andere Damen, denn, Gott sei Dank! es fahren
nicht Alle wie Apollonia! Die Sache ist nur
dadurch möglich, daß Alles, was vernünftig ist,
ausreißt, sobald sie sich blicken läßt. Wer ihr
Lehrmeister gewesen und tvo sie gelernt hat, dar-
über zerbricht sich Alles den Kopf. Ich glaube,
ich bin dahinter gekommen, aber allzuviel mag
ich darüber nicht verlauten lassen.
Nur soviel:
Hier in der Nähe gibt's eine stille Gemeinde,
die sich Apollonia zum Schauplatz ihrer Armen-
pflege und sonstigen Wohlthätigkeit ausersehc»
hat. In dieser Pfarrei ist die Sterblichkejtsziffer
entsetzlich in die Höhe geschnellt. Die Leute
meinten, die Schuld läge daran, daß die Leute
zu schlechtes Wasser oder daß sic zu wenig Wasser
tränken. Aber ich glaube eher, daß Apvllonia's
Radfahren damit im Zusammenhang steht. Sie
und ihr Bieycle auf der einen — ihre Opfer
und ihre Lehrer auf der andern Seite haben
vsscubar mit der Todteuliste zu thun. Aber
reden Sie nicht zu viel darüber, trotz Allem
möchte ich mit dem Mädchen nicht allzu schlecht
umgehen.
Uebrigens habe ich Apollonia seit Woche»
nicht iviedergcsehen. Sie „übt" immer noch,
müssen Sie wissen, und ich bin ein vernünftiger
Mensch. Sehe ich sie nur
von Weitem kommen, so
stürze ich mich flugs in den
nächsten Laden und lasse
einen Schilling ivcchseln,
oder ich kaufe eine Zeit-
ung, die ihre Leser gegen
Unfall versichert.
91
Jul. Diez (München).
von ihrem Körpergewicht auf mich, trat immer
wahnsinniger auf die Pedale los und umklam-
merte die Lenkstange immer verzweifelter. Und
wir sausten über das Staket und das Blumen-
beet, welches an der Mauer liegt, zertrampelten
eine Gruppe von Gladiolen, zerstampften einen
Kranz von Chrysanthemen zu Staub, köpften et-
liche stolze Sonnenblumen und brachten einem
prachtvollen Dijon-Noscnstock Tod und Verderben.
Der Letztere wehrte sich, zerriß mit seinen Dornen
meine Hosen und zerfleischte meine zarten Glie-
der. Wir galoppirten durch einen Lorbeerbusch
und schossen gegen die Gartenmauer, genau an
der Stelle, wo, meines Onkels Stolz und Freude,
ein früchtebeladener Pflaunienbanm stand. Auf
diesen stürzte die tollgcwordene Maschine mit weit-
aufgerissenem Nachen los und biß ihn entzwei.
Dann schleuderte sie Apollonia in die Glas-
scherben, welche die Gartenmauer krönten, warf
mich zu Boden in die verstreuten und zerquietsch-
ten Pflaumen, und wälzte sich dann selbst auf
mich, daß mir alle Glieder knackten.
Als sich Apollonia aus den Glasscherben her-
ausgelcsen hatte, fragte sie mich wuthschnaubend,
ob ich es vielleicht für einen guten Witz halte,
so mit einem Mädchen umzugeheu? Sie hätte
sich ihre Hände ganz zerkratzt und ich hätte alle
Arten von Blumen zerstört und überdies den
Lieblingspflaumenbaum ihres Vaters. Warum
ich nicht einfach in Gemiithlichkeit mit ihr rund
um die Wiese gefahren sei, während sie sich übte,
die Balance zu halten? Sonst hätte sie ja doch
weiter nichts verlangt. Ob ich am Ende zu schwach
sei für diese kleine Anstrengung ? „Sogar Nuggles
hätte sich geschickter angestcllt", fügte sic bei. —
„Dann lasse Dich doch ja das nächste Mal
von Ruggles führen!" sagte ich in wachsendem
Groll. Aber sie lenkte ein. Einmal wolle sie cs
noch mit niir versuchen.
Ich bedachte, daß Nuggles Familie hätte, die
am Ende verwaist Zurückbleiben könnte und opferte
mich zum dritten Mal. Es tvar der edelste Ent-
schluß meines Lebens. Apollonia erklomm das
Rad, während ich es festhielt — keine Kleinigkeit,
wenn man ihr imposantes Gcivicht bedenkt. Ich
kannte es; ich hatte es ja eben gefühlt.
„Dieses Mal, liebes Kind," begann ich, „Iverde
ich nicht eher den Versuch machen, das Rad zu
steuern, als bis Du einen heiligen Eid geschworen,
Dich nicht an die Lenkstange zu hängen. Machst
Du cs wie vorher, so ist Dir eine zweite Be-
steigung der Gartenmauer getviß. Also richte
Dich darnach — oder die Folgen aus Dein Haupt!"
Mein drohender Blick schüchterte sie offenbar ein.
Sie leistete den Eid.
„Aber ich darf mich doch auf Deinen Arm
stützen, Charlie?" Natürlich durste sie das. Und
jetzt gingen die Geschäfte auch besser. Wir kamen
zwei Mal mit heiler Haut um die Wiese — d. h.
Apollonia hatte die heile Haut: mir hatte das
Pedal das rechte Schienbein nahezu durchsägt;
aber ich tvar entschlossen, schlveigend zu dulden.
Beim dritten Kreislauf stolperte ich, das Vor-
derrad kam in's Schwanke» und ehe ich mich's
versah, hatte ich das Bieycle losgelassen und lag
auf dem Rücken im Tennisplatz. Als ich mich
erhoben hatte, bot sich mir ein Anblick — pracht-
voll und furchtbar zugleich. Apollonia und ihr
Rad waren etwa sechs Meter von mir weg und
noch immer beisammen; freilich war eine Trenn-
ung in kürzester Zeit vorauszusehen. Das Rad
hatte den direkten Weg nach dem großen Rosen-
bect eingeschlagen, ungerührt durch die Verzweif-
lung seiner Reiterin, bereu Gesicht von Todes-
angst verzerrt tvar. Sie beugte sich, dem Beete
näher gekommen, immer weiter »nd ivciter nieder,
als wollte sie an passant ein wenig an den Ro-
sen rieche», während die Maschine einen flotten
Bogen nach auswärts beschrieb, um am Rande
vorübcrzusegeln.
Niemals im Leben sah ich so was wieder.
Das Bieycle warf Apollonia mit der größten
Exaktheit und Eleganz in die Rosen und stürmte
dann schneidig allein weiter. Schot, sah ich cs
im Geist mit den Rädern ausschlagen und wiehernd
dem Stalle zusprengen — aber nein! Es legte
sich ruhig nieder in's weiche Gras. Seine Ab-
sicht, Apollonia losznwerden, war ihm ja geglückt,
und es war mit dein wohlgelungenen Werk zu-
frieden. Weniger Apollonia. Sie kroch aus den
Rosen hervor, ganz blaß vor Wuth. Mich wür-
digte sie weder eines Wortes noch eines Blicks;
sic ries nach Ruggles, dem Gärtner.
„Nuggles," sagte sie, über mich schnöde hin-
tvegblickend, „ich möchte gerne, daß Sie mir ein
tvcnig helfen. Mr. Atkins muß fortgehcn!"
Ruggles trat aus seinen Kohl- und Erdäpfel-
beeten hervor mit stark geröthetem Gesicht. —
Das kam wahrscheinlich vom Bücken. Er schaute
mich mit einem seltsam zwinkerndem Blicke an,
brauchte eine geraume Zeit dazu, das Rad auf-
zustellen, bog einiges Verbogene wieder gerade,
kehrte meiner Base den Rücken und schien unter
dem Einflüsse einer tiefen, seelischen Bewegung
zu stehen. Vielleicht hatte er entdeckt, daß an
den Pedalen nachzuckende Fetzen meines Fleisches
hinge» und zitterte für das seinige.
Ich verbeugte mich vor Apollonia und rief
ihr „Allheil!" zu. Dann trat ich dicht an Rug-
gles heran und sagte weich:
„Kommen Sie dann nur zu mir. Ich ver-
binde Sie, gebe Ihnen ein wenig Bor-Lint und
Heftpflaster. Und — sollte irgend ctivas Mensch-
liches passiven — Sie sollen ein anständiges Be-
gräbniß haben."
Ruggles ließ, von einem plötzlichen Husten-
anfall gepackt, das Rad noch einmal fallen. Er
war offenbar erkältet. Als ich ihn verließ, nestelte
er immer noch an dem Bieycle heruni.
Nach einigen Tagen sah ich ihn wieder und
er beichtete mir, >vie es ihm ergangen. Fräu-
lein Apollonia habe ihm „einige Spähnc" ab-
gcsprengt und sich merkwürdig viel mit den
Blumenbeeten beschäftigt. Der Herr Papa sei
wüthend gcivordcn, das Rad zu seinem Besitzer
zurückgctvandert und nie dürfe ein Bicyle mehr
dem geheiligten Bezirk jenes Gartens nahen.
Nichtsdestoweniger durchkreuzt Apollonia jetzt
die Straßen wie andere Damen — wie einige
andere Damen, denn, Gott sei Dank! es fahren
nicht Alle wie Apollonia! Die Sache ist nur
dadurch möglich, daß Alles, was vernünftig ist,
ausreißt, sobald sie sich blicken läßt. Wer ihr
Lehrmeister gewesen und tvo sie gelernt hat, dar-
über zerbricht sich Alles den Kopf. Ich glaube,
ich bin dahinter gekommen, aber allzuviel mag
ich darüber nicht verlauten lassen.
Nur soviel:
Hier in der Nähe gibt's eine stille Gemeinde,
die sich Apollonia zum Schauplatz ihrer Armen-
pflege und sonstigen Wohlthätigkeit ausersehc»
hat. In dieser Pfarrei ist die Sterblichkejtsziffer
entsetzlich in die Höhe geschnellt. Die Leute
meinten, die Schuld läge daran, daß die Leute
zu schlechtes Wasser oder daß sic zu wenig Wasser
tränken. Aber ich glaube eher, daß Apvllonia's
Radfahren damit im Zusammenhang steht. Sie
und ihr Bieycle auf der einen — ihre Opfer
und ihre Lehrer auf der andern Seite haben
vsscubar mit der Todteuliste zu thun. Aber
reden Sie nicht zu viel darüber, trotz Allem
möchte ich mit dem Mädchen nicht allzu schlecht
umgehen.
Uebrigens habe ich Apollonia seit Woche»
nicht iviedergcsehen. Sie „übt" immer noch,
müssen Sie wissen, und ich bin ein vernünftiger
Mensch. Sehe ich sie nur
von Weitem kommen, so
stürze ich mich flugs in den
nächsten Laden und lasse
einen Schilling ivcchseln,
oder ich kaufe eine Zeit-
ung, die ihre Leser gegen
Unfall versichert.
91
Jul. Diez (München).