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Nr. 6

* JUGEND

Wieder

Sie wollten klingen und klangen nicht,

Sie suchten zitternd das goldnc Licht.

Das war ein heimlich Zwängen und Drängen,
Von alten Schmerzen 7 Von neuen Gesängen?
Das pochrc mit halben Flüstcrworte»,

21» alle Pforten,

Und gab nicht Ruhe, kam immer wieder:
Ihr meine ungeborenen Lieder!

Bkun seid ihr alle in Schöpferstunden
Frcigcworden und losgcbunden.

Und wo die Flämmchcn im Herde springen
Und Deutsche noch fingen,

Da schüttelt Euch fein und klopft an die

Scheiben:

„Liebe Leute, hier möchten wir bleiben!"
Doch ladt kein freundliches Wort Euch ein —
Hussah, weiter in's Land hinein!

Ich gab Euch Kleider und wandcrfchuhe —
VTmt laßt mich in Ruhe! Carl Buffe.

&

Geseichten

). Das Undenkbare

Zehn Weiber, jede mit einem leiblichen Kinde
auf dem Arm, schmähten ein Weib, das zwei Kinder
an der Brust liegen hatte, ihr eigenes und ein
fremdes. „Unverantwortlich", riefen die Weiber,
„wie diese gewiffenlose peston sich verzettelt und
vergeudet, anstatt ihre ganze Kraft dem eigenen
Kinde zu widmen und es zu etwas Tüchtigem
heranzunähren!“ Ls war ihnen nämlich ungewohnt
und sie dachten gar nicht an die Möglichkeit, daß
jenes reiche Weib Nahrung genug für zwei Kinder habe.

2. Der weife Scheich

Lin Kadi war der Bestechlichkeit überführt und
hatte sich vor dem Scheich zu vertheidigen. „Ich
muß zugeben," sagte er, „daß ich Geschenke an-
genommen habe; aber ich habe darum nie dem
Schenkenden günstiger geurtheilt, sondern bin stets
nach dem Rechte verfahren, und wenn der Schen-
kende anderes erwartete, hat er sich in mir getäuscht."

„vortrefflich!" lachte der edle Scheich. „Ich
war geneigt, dich nur für schwach zu halten; jetzt
aber zeigst du selbst, daß du ein reeller Schuft bist
und du sollst doppelt bestraft werden."

Otto Lrnst.

£

F!<-rdl<rttdsfirh>rt:

Wtjicrabe als der mürrische alte Kapitän, un-
willig ob der Leere seines Verdecks, das
Zeichen zur Abfahrt geben wollte, flatterten
elf Sommerkleider, zwei leichte hello Iackets
und ein schwarzes Seidenkleid um die Ecke.
Das Seidenkleid verhüllte die umfangreichen
Glieder einer beschützenden Matrone, in den
Iackets steckten zwei frische Iünglingsgestalten,

und in den elf Sommerkleidern-— —

„Donnerwetter, sieh doch nur," sagte be-
geistert der sonst so kühle lange Vetter, „keine
bfäßliche dazwischen, das ist doch kolossal!"

lind er hatte Recht! Blühende Gesichter,
schlanke Gestalten, blaue Augen und blonde
lfaare, zwei hatten sogar dunkle Augen und
Helle Locken! Das nöthigte selbst mir ein bewun-
derndes Räuspern ab. lvio eine Schaar zwitsch-
ernder Vögel flatterten sie auf das verdeck. Die

1SS8

Schiffsglocko gellte, die Dampfpfeife schrie, elf
Helle Stimmchen thaten desgleichen, und der
Dampfer pustete los, weißgrüne Wirbel in den
glatten Fluthen ziehend. Ach, dieser lange
Vetter! was kümmerte ihn der Fjord, der im
Glanze der Inlifonne wie eine geschliffene
Silbcrplatte da lag, was die dunkelgrünen,
kleinen Inseln, an denen weiße Segel vorüber-
glitten im sachten lfauch des Seewindes, was
Gskarhall, das eben wie ein Juckerschloß ans
den Wipfeln emporstieg!

„Sieh doch, lfans, da liegt —" — knuff,
ich erhielt einen mächtigen Rippenstoß zum
Zeichen, daß der lange Vetter nicht gewillt
war, sich mit leblosen Naturschönheiten abzu-
geben. Seine Augen wunderten von einer der
elf nordischen Jungfrauen zur anderen, immer
verklärter wurde sein Antlitz, immer graziöser
seine lfaltung.

„kfans!"

„kfalt's Maul!"

Und so glitten wir dahin durch den wnnder-
vollcn Fjord, die Flulhen glitzerten und funkel-
ten, die Luft war so rein und klar, ich athmete
tief und fühlte mich unendlich wohl in diesem
herrlichen Lande, in welchem Alles so ernst
und doch schön, so ruhig und vornehm war.
— lhalt, da waren wir! Ich sprang an's Land,
als ein wohlbekannter pfiff hinter mir gellte.
Aber ich sah mich nicht um. wieder ein Pfiff,
etwas dringender — ich blieb tanb l Lin halb-
lauter wüthender Ruf — ich hörte nicht. Und
ich konnte das, denn ich hatte die Reisekasse,
und mein langer Vetter keinen Pfennig in der
Tasche seines unendlichen Beinkleides.

„Zum Donnerwetter, nun ist der Dampfer
mit den reizenden Weibern wahrhaftig schon
weitergefahren, warum hörst Du denn nicht?"
Mein langer Vetter stand neben mir.

„Lieber Junge, wir wollen doch nach Mskar-
hall, und da wir morgen Früh von Lhristiania
abintschen müssen, so dürfen — —"

„Ach, Blech!" sagte der Vetter. Und für
den Rest des Tages hatte er die Laune ver-
loren, nicht einmal mein Fall in eine Pfütze
erregte sein Lächeln, obwohl er innerlich ge-
wißlich jubelte. Lrst Abends im Tivoli wurde
er wieder genießbar, wozu der gute Grog er-
heblich beitrug Und dann schliefen wir unsere
letzte Nacht auf norwegischem Boden. Gegen
zwei Uhr weckte mich ein lauter Ruf: „Lsel,
lferrgott Du alter Lsel, so'n Lsell"

Der lange Vetter sprach im Schlafe, be-
ruhigte sich aber bald wieder und verlor sich
in ein unverständliches Gemurmel.

„Gut geschlafen?" fragte ich am Morgen
„Danke, viel geträumt, Du kamst auch da
rin vor!"

„lfm I"

Und wir gingen auf den „Melchior" und
ftihren gen Südcti durch den herrlichen Lhri
stianiafjord. Immer weiter wichen die grütien
Ufer zurück, initiier kleiner wurde das liebe
Land, immer tiefer tauchte Norwegen in die
Flnthen. 2lls der schmale Küstenstreif i,»-Mecre
versank, klopfte der Vetter auf meine Schulter:
„27a, weißt Du, es wäre ja Blödsinn ge-
wesen, da gestern mit den Mädchen wciter-
znfahren, aber ein alter Lsel bist Du doch!"

„Das weiß ich schon seit zwei Ubr Nachts!"
sagte ich und freute mich über das versiändnißlose
Gesicht des langen Vetters. kurt Aaiiilah.

Felix Hollcnberg (Stuttgart).

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Register
Otto Ernst: Kurze Geschichten
Carl Busse: Lieder
Felix Hollenberg: Zeichnung ohne Titel
Kurt Kamlah: Nordlandsfahrt
 
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