1898
JUGEND •
Nr. 8
„Seelenfäden"
Psycho-polychromes Fragment aus dem Torso: „Ich!"
Ich lausche gebeugt den Zuckungen mei-
ner Seele.-—
Mein Antlitz ist zerflossen, meine Hände
wühlen in meinen Heimlichkeiten, und um
mich ist der gelbe, buttcrgclbe See der Ein-
samkeit. — ? — ! —
Aber meine Seele ist ein verwundetes
Pferd, meine Seele hat Schwingen mit fetten
Sehnen, meine Seele har eine breite Brust
und ein grinscndschöncs Mädchcngcsicht.
Und wenn sie mich anblickt in ihren
Zuckungen, tropft aus ihren grüngestrciftcn
Augen das Mitleid. Tropft in zitternden,
bunten Glastropfcn. Die zerspringen, wenn
sie aufschlagcn. Meine Seele hat Mitleid
mit mir.-
Ich lausche gebeugt den Zuckungen meiner
Seele.
Ich bin nicht mehr ich.-Ich bin
mehr.-Meine Beine sind ausgefallen,
wie rodres Haar, meine Arme und meine
dünnen, pergament-gelben Beine. Mein Leib
ist brcitgclaufen wie ein Tümpel.
^ Ein Strumpf liegt in dem Brei. Ah! —
Ich weiß, ich habe diese» Strumpf einst gc-
tragrn. Ich kenne ihn an den zwei Löchern
in der Ferse. Ein kleines. Und ein breites,
klaffendes.
klaffendes! wie? — Mitleid? Nein!
Denn das alles fleht mein Auge nur
flüchtig, „ur sccundcnhafr nebenhin ab-
schweifend. Immer blickt es groß, unend-
lich, ruhig auf die zuckende Seele.-
Es ist nichts, als der große, buttcrgclbe
Sec der Einsamkeit und meine Seele. Das
ist die Welt. Sonst nichts.
— — Gefügte Anochcngcrüstc klapperten
an dem Tümpel meines Leibes vorbei. Ich
sah sic nicht, noch kenne ich sic. Ich kenne
nur meine Seele.
Mein Leib läuft dem buttcrgclbcn See
der Einsamkeit zu.
Der Strumpf schwimmt noch immer
um mich.-
Da 1 Ein Wort 1 ?-I
Das kann nur der große, der einzige Au-
gust przysznubsci aus Przcmpsl gesprochen
haben! I
Es steht vor mir! Rlcin, rund, msskugel-
igcn Augen und einem rothglühen Mantel.
Und seine Augen weiten und wölben sich
und zerplatzen, und leuchtende, flammende,
violette Helle tanzt um mich.-
Ich werde ganz ruhig in diesem vio-
letten Lichte, und meine Augen, meine herr-
lichen Augen, sind scharfe Seciemcsscr. Sic
Zerfleischen das Rärhscl.-—
Ach, was war das Alles! wie einfach
>st das Alles!-
Ich werde noch ruhiger!-
Ja freilich, das ist ja meine Seele!
Sich doch, dieses einfache, dieses schlichte,
dieses spmmcrrischc Gewebe! II I
Alar liegt Alles in Wesenheit vor mei-
nen herrlichen Augen, die die Glaskugel»
des Mitleids aufgesogcn und getrunken
habe». Rlar, im violetten Lichte, wie ein
kalter Polarstern ist meine Seele.
Und es enthüllen sich mir die Fäden ihrer
Wirrungen.
Dies der Rand. — Zwanzig mal zwei
tcchts und links herunter bis zur Wade,
«cchszigmal glatt. — Ah, glatt!
Hier ist an der hinteren Naht abge-
oniincn, jedesmal zwei auf der rechten und
sl.i , IlEcn Nadel. Die zwei Hinteren Na-
ln abwechselnd rechts und links herüber.
Mehr, mehr des violetten Lichtes!
Ich trinke Acther!
Nun sind die Anfangsmaschcn abge-
hoben und links die zwei folgenden rechts
genommen.
Leim Deckelchen ist zugenommen worden.
Dann traten von beiden Seiten die Maschen
heran und bildeten auf einer Nadel den
runden 2lbschluß.
Er ist zerstört-?-Zwei klaffende
Wunde» verrathen nur noch schwach die
einstige Struktur.
Wunden — was hat sie geschlagen?
Seele, Du, mit dem unendlichen Mitlcidc
mit mir, was hat sic geschlagen?-?-
Hier wurden die Maschen von der Ferse
an wieder ausgenommen und der Spanii-
zwickcl wurde begonnen. 2ln beiden Seiten,
in gleichmäßige» Zwischenräumen, ist abgc-
nommcn worden. Bis zur Enge.
wie kühl wird cs plötzlich um mich!
Bis zur-- Enge 11 Ja so ward
sie erreicht, fest und bestimmt, kühl und
klar ist sie da.
Dann noch ein Stück glatt und bis zur
Spitze auf jeder Nadel cininal abgcnommen.
Dort bist Du schwach, meine Seele,
dünn sind dort die Fäden Deines Gewebes.
Seele, Du meine Seele, warum schwach?
— — ? — I — Welche Rät!) sei in aller
'Klarheit I
Aber ich kenne Dich jetzt durch das
Wort des Einzigen.
Und ich gebe Dich dem Tümpel meines zer-
fließenden Leibes zurück. Und Du schwimmst
wieder um mich. — — —-
Fern, fern dehnt sich der gelbe, butter-
gelbe See der Einsamkeit und ich sitze ge-
beugt und lausche den Zuckungen meiner
schwimmenden Seele — — — —
(Berlin-Dalldorf.) Lrnst Schnurr.
#
Aus der Gedankenmitrailleuse
eines bis zur Ausgabe dieser Nummer viel-
leicht schon abgesetzten Kriegsministers.
Von Billot
Die französische Armee ist eine Sonne: je
mehr Flecken sie hat, desto heller strahlt sie!
Mit der Ehre unserer Nation verhält es
sich wie mit einer Galeere: je mehr Löcher
sie hat, desto weniger geht sie unter.
Wahre Weisheit offenbart sich am hellsten
im Delirium des Unsinns, echte Sittlichkeit
am schönsten im Nebel der Phrase. Es ist
damit wie mit einem Blumenstrauss — je
mehr er stinkt, desto feiner der Duft.
Je unbestechlicher und ehrenhafter ein
Staatsbeamter ist, desto mehr Trinkgelder wird
er einstecken; er ist wie der Mond: je mehr ihn
die Wolken verhüllen, desto reiner ist sein Licht.
Nichts ist für ein Volk erhebender und
heilsamer als ein Skandalprocess, der die ab-
scheulichsten Schäden aufdeckt; es ist wie mit
einer Wunde • je mehr sie eitert, desto wohler
befindet sich der Organismus.
Parlamentsredner sind wie die Schuhmacher:
je kleiner der Fuss, desto grösser der Stiefel.
(Kann auf Verlangen fortgesetzt werden.)
Jan Toorop.
Cafe-Chantant
U9
JUGEND •
Nr. 8
„Seelenfäden"
Psycho-polychromes Fragment aus dem Torso: „Ich!"
Ich lausche gebeugt den Zuckungen mei-
ner Seele.-—
Mein Antlitz ist zerflossen, meine Hände
wühlen in meinen Heimlichkeiten, und um
mich ist der gelbe, buttcrgclbe See der Ein-
samkeit. — ? — ! —
Aber meine Seele ist ein verwundetes
Pferd, meine Seele hat Schwingen mit fetten
Sehnen, meine Seele har eine breite Brust
und ein grinscndschöncs Mädchcngcsicht.
Und wenn sie mich anblickt in ihren
Zuckungen, tropft aus ihren grüngestrciftcn
Augen das Mitleid. Tropft in zitternden,
bunten Glastropfcn. Die zerspringen, wenn
sie aufschlagcn. Meine Seele hat Mitleid
mit mir.-
Ich lausche gebeugt den Zuckungen meiner
Seele.
Ich bin nicht mehr ich.-Ich bin
mehr.-Meine Beine sind ausgefallen,
wie rodres Haar, meine Arme und meine
dünnen, pergament-gelben Beine. Mein Leib
ist brcitgclaufen wie ein Tümpel.
^ Ein Strumpf liegt in dem Brei. Ah! —
Ich weiß, ich habe diese» Strumpf einst gc-
tragrn. Ich kenne ihn an den zwei Löchern
in der Ferse. Ein kleines. Und ein breites,
klaffendes.
klaffendes! wie? — Mitleid? Nein!
Denn das alles fleht mein Auge nur
flüchtig, „ur sccundcnhafr nebenhin ab-
schweifend. Immer blickt es groß, unend-
lich, ruhig auf die zuckende Seele.-
Es ist nichts, als der große, buttcrgclbe
Sec der Einsamkeit und meine Seele. Das
ist die Welt. Sonst nichts.
— — Gefügte Anochcngcrüstc klapperten
an dem Tümpel meines Leibes vorbei. Ich
sah sic nicht, noch kenne ich sic. Ich kenne
nur meine Seele.
Mein Leib läuft dem buttcrgclbcn See
der Einsamkeit zu.
Der Strumpf schwimmt noch immer
um mich.-
Da 1 Ein Wort 1 ?-I
Das kann nur der große, der einzige Au-
gust przysznubsci aus Przcmpsl gesprochen
haben! I
Es steht vor mir! Rlcin, rund, msskugel-
igcn Augen und einem rothglühen Mantel.
Und seine Augen weiten und wölben sich
und zerplatzen, und leuchtende, flammende,
violette Helle tanzt um mich.-
Ich werde ganz ruhig in diesem vio-
letten Lichte, und meine Augen, meine herr-
lichen Augen, sind scharfe Seciemcsscr. Sic
Zerfleischen das Rärhscl.-—
Ach, was war das Alles! wie einfach
>st das Alles!-
Ich werde noch ruhiger!-
Ja freilich, das ist ja meine Seele!
Sich doch, dieses einfache, dieses schlichte,
dieses spmmcrrischc Gewebe! II I
Alar liegt Alles in Wesenheit vor mei-
nen herrlichen Augen, die die Glaskugel»
des Mitleids aufgesogcn und getrunken
habe». Rlar, im violetten Lichte, wie ein
kalter Polarstern ist meine Seele.
Und es enthüllen sich mir die Fäden ihrer
Wirrungen.
Dies der Rand. — Zwanzig mal zwei
tcchts und links herunter bis zur Wade,
«cchszigmal glatt. — Ah, glatt!
Hier ist an der hinteren Naht abge-
oniincn, jedesmal zwei auf der rechten und
sl.i , IlEcn Nadel. Die zwei Hinteren Na-
ln abwechselnd rechts und links herüber.
Mehr, mehr des violetten Lichtes!
Ich trinke Acther!
Nun sind die Anfangsmaschcn abge-
hoben und links die zwei folgenden rechts
genommen.
Leim Deckelchen ist zugenommen worden.
Dann traten von beiden Seiten die Maschen
heran und bildeten auf einer Nadel den
runden 2lbschluß.
Er ist zerstört-?-Zwei klaffende
Wunde» verrathen nur noch schwach die
einstige Struktur.
Wunden — was hat sie geschlagen?
Seele, Du, mit dem unendlichen Mitlcidc
mit mir, was hat sic geschlagen?-?-
Hier wurden die Maschen von der Ferse
an wieder ausgenommen und der Spanii-
zwickcl wurde begonnen. 2ln beiden Seiten,
in gleichmäßige» Zwischenräumen, ist abgc-
nommcn worden. Bis zur Enge.
wie kühl wird cs plötzlich um mich!
Bis zur-- Enge 11 Ja so ward
sie erreicht, fest und bestimmt, kühl und
klar ist sie da.
Dann noch ein Stück glatt und bis zur
Spitze auf jeder Nadel cininal abgcnommen.
Dort bist Du schwach, meine Seele,
dünn sind dort die Fäden Deines Gewebes.
Seele, Du meine Seele, warum schwach?
— — ? — I — Welche Rät!) sei in aller
'Klarheit I
Aber ich kenne Dich jetzt durch das
Wort des Einzigen.
Und ich gebe Dich dem Tümpel meines zer-
fließenden Leibes zurück. Und Du schwimmst
wieder um mich. — — —-
Fern, fern dehnt sich der gelbe, butter-
gelbe See der Einsamkeit und ich sitze ge-
beugt und lausche den Zuckungen meiner
schwimmenden Seele — — — —
(Berlin-Dalldorf.) Lrnst Schnurr.
#
Aus der Gedankenmitrailleuse
eines bis zur Ausgabe dieser Nummer viel-
leicht schon abgesetzten Kriegsministers.
Von Billot
Die französische Armee ist eine Sonne: je
mehr Flecken sie hat, desto heller strahlt sie!
Mit der Ehre unserer Nation verhält es
sich wie mit einer Galeere: je mehr Löcher
sie hat, desto weniger geht sie unter.
Wahre Weisheit offenbart sich am hellsten
im Delirium des Unsinns, echte Sittlichkeit
am schönsten im Nebel der Phrase. Es ist
damit wie mit einem Blumenstrauss — je
mehr er stinkt, desto feiner der Duft.
Je unbestechlicher und ehrenhafter ein
Staatsbeamter ist, desto mehr Trinkgelder wird
er einstecken; er ist wie der Mond: je mehr ihn
die Wolken verhüllen, desto reiner ist sein Licht.
Nichts ist für ein Volk erhebender und
heilsamer als ein Skandalprocess, der die ab-
scheulichsten Schäden aufdeckt; es ist wie mit
einer Wunde • je mehr sie eitert, desto wohler
befindet sich der Organismus.
Parlamentsredner sind wie die Schuhmacher:
je kleiner der Fuss, desto grösser der Stiefel.
(Kann auf Verlangen fortgesetzt werden.)
Jan Toorop.
Cafe-Chantant
U9