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Nr. 13

JUGEND

1898

Mrs Abslt etlix JDLdlLtl itnfr EvnftIIane

(Eine radtionalistische Philosophie
Gewidmet den Mitgliedern des Damcn-Aadfahrvereins

^Oiemand zweifelt heute mehr, daß die
Thiere denken können und daß auch
diese Fähigkeit wie die des Essens und Trinkens
»ns mit ihnen gemeinsam ist. wie es aber
Vorzug und würde des Menschen ist, zu viel
zu essen und zu trinken, so zeichnet ihn auch
das wunderbare vermögen aus, daß er zu viel
denken kann. Gb es viele Menschen gibt, die
viel denken, wage ich nicht zu entscheiden;
ganz bestimmt aber gibt es einige, die zu viel
denken. Man nennt sie Philosophen.

wenn es nun in der Welt immer blos
vernünftig zuginge, daß sie, wie von Bewußt-
sein erhellt, der Schönheit ihrer Ziele und
Erfüllungen entgegenwüchse, dann hätten die
Philosophen wenig zu thun; auch wenn sie
immer blos unvernünftig wäre und sinn- und
herzlos ihren Mechanismus von einem ganz
gleichgiltigen Punkte zu einem andern ganz
gleichgiltigen fortrollte — so wären die Philo-
soxhenköxfe hart genug, um sich an ihr nicht
zu zerbrechen. Das wunderliche ist aber, daß
die Welt weder ganz vernünftig noch ganz
unvernünftig ist. Nun wissen wir zwar sehr
gut, wie wir es machen, theils vernünftig
theils unvernünftig zn sein, und daß wir leider
in beiden Fällen immer einer und derselbe
sind. Aber daß die ganze Welt einerseits
Stoff und andrerseits Geist ist, blinde Kraft
und sehender Sinn, und dennoch eine und die-
selbe — das wollen die Philosophen verständ-
lich machen, nachdem sie es erst unverständlich
gemacht haben.

Aber erst jetzt kann das gelingen. Wohl
haben die Pessimisten behauptet, alle Dinge
zögen die Kraft ihres Bewegens aus einem
blinden willen, der immer nur drängte und
stieße, ihre Form und Lenkung aber von der
wcltvernnnft, die zwar an sich ohn-
mächtig ist, aber Bedeutung dadurch
erhält, daß sie manchmal — nicht
immer — den willen ihr zu folgen
bestimmt. Niemals indeß konnten
sie ein Ding außerhalb des Menschen
aufweisen, an dem die Einheit dieser
Elemente sichtbar würde — bis end-
lich die Entwicklung der Welt zuni
Zwcirad gelangt war. kjisr konnte
man es nun mit Händen greifen und
begreifen, ja, man konnte es sogar
besitzen: der blinde, aber kraft-
volle, alle Bewegung erzeugende
Wille in den Pedalen, die Vernunft,
die lenkende, zielstrebcnde, aber, ach,
nicht immer durchgreifende, in der
Lenkstange! And beides endlich in
einem Wesen zn gleichen Rechten
vereint! Nun erst begreifen wir
den vorwegnehmenden Tiefsinn, der
den Menschen einen Mikrokosmus
nennt: denn nun kann er ja das
Bild des Weltseins verwirklichen;
an einem Wesen außerhalb seiner,
das ihm doch innigst, von ihm be-
herrscht und ihn beherrschend, ver-
bunden ist, objektivirt sich die trans-
scendentale Einheit der mechanischen,

dumpfen Kraft der Weltpedale und der sicheren,
bewußten, im Lichtreich des Zieles und Zweckes
bewegten Weltlenkstange. So ahnte es der
Große: „Am farbigen Radkranz haben wir
das Leben!"

So ist denn der Bann der Erscheinung
durchbrochen, von dem noch ein Kant glaubte,
daß er uns für immer von dem Ding-an-sich-
der-welt trennte, und leuchtend ragen an un-
zähligen Punkten die geheimsten Kräfte des
Seins in dis Sichtbarkeit hinein, was ist
denn die Foruiel, nach der die Welt sich be-
wegt, sich entwickelt? Ist sie nicht ein ewiges
Fortschrciten, das doch die gleichen Formen
stetig wiederholt? Ist sie nicht ein ewiges
wiederholen, das dennoch in's Unendliche sich
fortentwickelt? verbindet sie nicht das Sich-
in-Sich-Schließen des Kreises mit dem grenzen-
losen Verlauf der geraden Linie? Das ist
nun kein unerwiescner Traum verflogenen
Denkens mehr, sondern zu der greifbaren
Wahrheit des Rades verkörpert, wenn die
Pedale sich drehen, jeder Punkt unermüdlich
in seine Anfangslage zurllckkehrt und dennoch
das Ganze sich fortbewegt — wenn das Fort-
eilen durch immer neue Punkte, in's Unbe-
stimmbare, dennoch von der Wiederholung
unabänderlicher Bewegung getragen wird —
ist das also nicht die Sichtbarkeit der geheiinsten
Kraft, der letztcrgreifbaren Form alles Seins?
Und es zeigt, wie der tiefste Grund der Wirk-
lichkeit auch die Auflösung der Disharmonien
enthält, an denen ihre Erscheinung krankt.
Alles in ihr bewegt sich durch Ungleichmäßig-
keit. Nur weil das Kalte neben dem Warmen
liegt, gleichen sich beide aus, nur weil die
chemischen Stoffe verschieden sind, strömen sie
zn neuen Mischungen ineinander, nur iveil

Rallippgos

ihr Bett sich hebt und senkt, fließen die Flüsse,
nur weil die Menschen einander ungleich sind,
erschüttern sie die Welt mit ihrem Zueinander-
u»d Voneinander-Strebeu. Das Rad allein
bewegt sich, weil es im Gleichgewicht
ist. Es belehrt uns, daß jenes Gebuudenscin
der Bewegung und Entwicklung an die Un-
gleichmäßigkeit der Elemente, an die Sehnsucht
nach einem immer wieder verschobenen Gleich-
gewicht, nicht das letzte Wort des Seins ist.
sondern nur die Unvollkonnnenheit vorbereiten-
der Erscheinung. Nur so lange durste diese
uns ängstigen, bis der tiefe Grund der Dinge
das Rad gebar, das nun endlich alles Streben
und Bewegen, siegend und versöhnend, an die
Schönhcit des Gleichgewichtes bindet. Und
wenn wir nun an den Fortschritt der Welt-
entwicklung glauben — wie dann immer mehr
todte Materie organische Form anuimmt, Be-
wußtsein und Vergeistigung immer mehr die
Mrganismen ergreift, der Sinn und Geist der
Dinge immer mehr Herr über die Unvernunft
des Stoffes wird — so ist nun endlich die
Richtung des Fortschritts gedeutet, den wir
bisher nur instinktiv gefühlt, ohne sein Ziel
zn kennen. Es hat nämlich ein großer Phi-
losoph vor ein paar hundert Jahren behauptet,
Gott habe der Welt ein für alle Mal ein be-
ftimmtcs Maaß von Bewegung verliehen, mit
der sie nun Haushalten inüffe, ohne sie zu ver-
mehren oder zu verringern, die Bewegung
die ein Wesen abgcbe, müsse ein anderes auf-
nehmen, und so gäbe es nicht in der Summe
der Bewegungen, sondern nur unter ihren
Trägern einen Wechsel Da nun aber immer
mehr geradelt wird, im vorigen Jahr mehr,
als vor zwei Jahren, in diesem Jahr mehr,
als im vorigen Jahr, so muß bei der Fort-
setzung dieser Entwicklung ins Un-
endliche schließlich alle Bewe-
gung der Welt an das Rad
abgegeben werden, es muß
allein als der Träger aller Bewe-
gungen übrig bleiben: Die Plane-
ten radeln um die Sonne, die Atome
i>n chemischen Molekül radeln um-
einander, die Röntgenstrahlen radeln
durch die Materie Damit ist die
Mannigfaltigkeit der Forine», in die
die von Gott der Welt verliehene
Bewegung auseinandergegangen ist,
wieder zur Einheit versöhnt, der
höchste Punkt der Weltentwicklung
hat alle Vorstadien in sich versammelt
und die unmittelbarste Bffenbarung
des Dinges an sich hat sich die Er-
scheinung unterworfen, die bisher
nur staminelnd und tastend die Er-
lösung zu ihrcui eigenen reinsten
Sein suchte.

Bis in alle Einzelheit des Schick-
sals hinein zeigt sich das Rad als die
Einheit aller Gegensätze. Am Aus-
gang des Mittelalters lehrt ein
tiefsinniger Philosoph, daß Gott die
coinciäenria oppositorum sei, das
Wesen, in dem die Gegensätze zu
Register
L. B.: Die Welt als Pedal und Lenkstange
Ernst Ewerbeck: All Heil!
 
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