Nr. 18
JUGEND
1898
Wr ließen sie schlafen. Und eines Tages erwachte sie und begann in kühnen
Sprüngen vorwärtszustürmen.- Ihr Lernen ist ein ununterbrochener Siegeslauf,
ein Werk voll Jubel und Lachen. Die Arbeit ist ihr ein Tanz. Qui bene latuit,
bene vixit.
Sie gehört zu den Nestflüchtern, deren Geist nicht löffelweise aufgepäppelt zu
werden braucht, sondern die gleich davonlaufen und selbst ihre Nahrung suchen
und finden, wenn sie die Eierschale, wenn sie den geheünnißvvllen, traumbefaugeneu
Schlaf der ersten Kindheit abgestreift haben.
Pflückt und zerrt nicht mit den dummen Fingern an den kleinen Knospen
herum, als könntet ihr nicht erwarten, daß sie sich öffnen! O ihr, die ihr die
Ruhe des Keimes nicht ehrt! Nicht, lvas einer kann, fragt ihr, sondern >vas er
schon kann! O ihr — ihr — ihr — Lieben! Wißt ihr nicht einen parlamen-
tarischen Ausdruck für euch?
Haltet den Kleinen hin und wieder ein paar Körner in offener Hand hin.
Wenn sie erwacht, sind, fangen sie von selbst an zu fressen.
„Und nun — Numero 4? Hertha Gunilde, genannt Tramplagonde? Wie-
viele Beulen am Kopf und tvieviel zerschmissenes Spielzeug heute?"
Sie ist von stürmischer Streitbarkeit, von sausender Gutmüthigkeit. Ihre
Zärtlichkeit ruft blaue Flecke hervor.
„Was wollen wir denn spielen?" Diese Frage richte ich an sie. Denn sie,
die Kleinste, ist der Regisseur unter den Vieren. Alles Geschehen gestaltet sich
in ihrer Phantasie sofort dramatisch; sie vertheilt die Rollen (sie selbst übernimmt
natürlich die „Mütter"); sie erfindet den Dialog, sagt den andern, ivas sie sagen
sollen und antwortet dann. Auch ihre Puppe und andere todte Dinge läßt sie
sprechen, in einem ganz dünnen, quäkenden Tone, und sie antlvortet dann in
einem sonoren, von reifer, mütterlicher Erfahrung und wohlwollender Nachsicht
gesättigten Tone. Das Goethe'sche Wort, daß Kinder aus allem etwas zu machen
wissen, bewahrheitet sie bis zur Tollkühnheit. Der Kinderstuhl wird zum Klavier;
ein anderer Stuhl dagegen signrirt mit merkwürdiger Inkonsequenz als Tram-
wagen; das Bauhölzchen wird zum Kuchen ernannt, den ich wohl oder übel
nicht an den Mund, sondern in den Mund führen muß: diese Gesellschaft
schenkt einem nichts. Wenn man sie gewähren läßt, muß man sich schließlich aus
die Zinken einer Harke setzen und im charmanten Konversationstöne versichern,
daß das ein vortreffliches Sopha sei. In der Phantasie der Kinder wird das
Unmögliche Ereigniß; was sie zu sehen wünschen, das sehen sie. Sie sind noch
ganze Götter, die aus nichts etwas schaffen können: so ihre Phantasie spricht, so
geschieht es; so sie gebietet, so stehet es da. Und weh dem, der lacht! Wenn
man sie in ihrem arglosen Phantasiefluge stört, stürzen sie herab, beschämt, be-
fangen, betrübt. Ich will's auch nicht wieder thun; fiir einen Dichter schickt sich,
das so garnicht!
Und thaut denn nicht bei diesem Lärm und Geplauder um mich her die ge-
frorene Musik meiner eigenen Jugendfreuden auf und fällt draußen in flimmern-
den, klingenden Tropfen vom Dach? Wenn ich Malvorlagen zum Geschenk er-
hielt, Hab ich nicht unterm Tannenbaum geträumt von ebenso herrlichen Bildern,
die ich danach malen wollte, und war es nicht nachher ein ganz echter Schmerz,
wenn die schlechten Farben, der dicke Pinsel und meine Unbeholfenheit nur ein
gräßliches Gesudel zustande brachten? Hab ich nicht in seligster Begeisterung das
Ideal-Puppentheater geschaut, das mein Freund, der Tischlerssohn, nach meinen
Angaben zimmern sollte, Hab ich mich nicht gläubig monatelang Hinhalten lassen,
und fühlte ich nicht so etwas wie ein „gebrochenes Herz," als der Hasenfuß end-
lich erklärte, er habe noch gar nichts gemacht, weil er nicht dürfe? Und Hab ich
nicht sechs Wochen lang jeden Samstag mit klopfendem Herzen auf das lebendige
Pferd geivartet, das mein Onkel mir mitbringen wollte, und mich immer wieder
hoffend bei seinen Erklärungen beruhigt, die Knochen seien noch nicht fertig, oder
die Haut, oder der Schwanz fehle noch!? Die Sterbestunde dieser Illusion ist mir
nicht mehr im Gedttchtniß; sie ist wohl ganz sanft und unmerklich verschieden. Und
dann ist es auch etwas lange her, daß mein Glaube so stark war.. .
Die Kleinen werden ungeduldig. Freilich: wenn man mit Kindern spielt, soll
man nicht sprachlos vor sich hindämmern. Dafür haben sie das denkbar geringste
Verständniß.
„Wir wollen .Rothkäppchen' spielen," hat Hertha entschieden. „Ich bin die
Großmutter", (die Rolle ist ihr auf'n Leib geschrieben!) „und Du bist der Wolf, und
Irene ist Rothkäppchen, und Trudel ist die Mutter, und Ludwig ist der Jäger."
Der Zefopple
Otto Eckmann (Berlin).
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Wr ließen sie schlafen. Und eines Tages erwachte sie und begann in kühnen
Sprüngen vorwärtszustürmen.- Ihr Lernen ist ein ununterbrochener Siegeslauf,
ein Werk voll Jubel und Lachen. Die Arbeit ist ihr ein Tanz. Qui bene latuit,
bene vixit.
Sie gehört zu den Nestflüchtern, deren Geist nicht löffelweise aufgepäppelt zu
werden braucht, sondern die gleich davonlaufen und selbst ihre Nahrung suchen
und finden, wenn sie die Eierschale, wenn sie den geheünnißvvllen, traumbefaugeneu
Schlaf der ersten Kindheit abgestreift haben.
Pflückt und zerrt nicht mit den dummen Fingern an den kleinen Knospen
herum, als könntet ihr nicht erwarten, daß sie sich öffnen! O ihr, die ihr die
Ruhe des Keimes nicht ehrt! Nicht, lvas einer kann, fragt ihr, sondern >vas er
schon kann! O ihr — ihr — ihr — Lieben! Wißt ihr nicht einen parlamen-
tarischen Ausdruck für euch?
Haltet den Kleinen hin und wieder ein paar Körner in offener Hand hin.
Wenn sie erwacht, sind, fangen sie von selbst an zu fressen.
„Und nun — Numero 4? Hertha Gunilde, genannt Tramplagonde? Wie-
viele Beulen am Kopf und tvieviel zerschmissenes Spielzeug heute?"
Sie ist von stürmischer Streitbarkeit, von sausender Gutmüthigkeit. Ihre
Zärtlichkeit ruft blaue Flecke hervor.
„Was wollen wir denn spielen?" Diese Frage richte ich an sie. Denn sie,
die Kleinste, ist der Regisseur unter den Vieren. Alles Geschehen gestaltet sich
in ihrer Phantasie sofort dramatisch; sie vertheilt die Rollen (sie selbst übernimmt
natürlich die „Mütter"); sie erfindet den Dialog, sagt den andern, ivas sie sagen
sollen und antwortet dann. Auch ihre Puppe und andere todte Dinge läßt sie
sprechen, in einem ganz dünnen, quäkenden Tone, und sie antlvortet dann in
einem sonoren, von reifer, mütterlicher Erfahrung und wohlwollender Nachsicht
gesättigten Tone. Das Goethe'sche Wort, daß Kinder aus allem etwas zu machen
wissen, bewahrheitet sie bis zur Tollkühnheit. Der Kinderstuhl wird zum Klavier;
ein anderer Stuhl dagegen signrirt mit merkwürdiger Inkonsequenz als Tram-
wagen; das Bauhölzchen wird zum Kuchen ernannt, den ich wohl oder übel
nicht an den Mund, sondern in den Mund führen muß: diese Gesellschaft
schenkt einem nichts. Wenn man sie gewähren läßt, muß man sich schließlich aus
die Zinken einer Harke setzen und im charmanten Konversationstöne versichern,
daß das ein vortreffliches Sopha sei. In der Phantasie der Kinder wird das
Unmögliche Ereigniß; was sie zu sehen wünschen, das sehen sie. Sie sind noch
ganze Götter, die aus nichts etwas schaffen können: so ihre Phantasie spricht, so
geschieht es; so sie gebietet, so stehet es da. Und weh dem, der lacht! Wenn
man sie in ihrem arglosen Phantasiefluge stört, stürzen sie herab, beschämt, be-
fangen, betrübt. Ich will's auch nicht wieder thun; fiir einen Dichter schickt sich,
das so garnicht!
Und thaut denn nicht bei diesem Lärm und Geplauder um mich her die ge-
frorene Musik meiner eigenen Jugendfreuden auf und fällt draußen in flimmern-
den, klingenden Tropfen vom Dach? Wenn ich Malvorlagen zum Geschenk er-
hielt, Hab ich nicht unterm Tannenbaum geträumt von ebenso herrlichen Bildern,
die ich danach malen wollte, und war es nicht nachher ein ganz echter Schmerz,
wenn die schlechten Farben, der dicke Pinsel und meine Unbeholfenheit nur ein
gräßliches Gesudel zustande brachten? Hab ich nicht in seligster Begeisterung das
Ideal-Puppentheater geschaut, das mein Freund, der Tischlerssohn, nach meinen
Angaben zimmern sollte, Hab ich mich nicht gläubig monatelang Hinhalten lassen,
und fühlte ich nicht so etwas wie ein „gebrochenes Herz," als der Hasenfuß end-
lich erklärte, er habe noch gar nichts gemacht, weil er nicht dürfe? Und Hab ich
nicht sechs Wochen lang jeden Samstag mit klopfendem Herzen auf das lebendige
Pferd geivartet, das mein Onkel mir mitbringen wollte, und mich immer wieder
hoffend bei seinen Erklärungen beruhigt, die Knochen seien noch nicht fertig, oder
die Haut, oder der Schwanz fehle noch!? Die Sterbestunde dieser Illusion ist mir
nicht mehr im Gedttchtniß; sie ist wohl ganz sanft und unmerklich verschieden. Und
dann ist es auch etwas lange her, daß mein Glaube so stark war.. .
Die Kleinen werden ungeduldig. Freilich: wenn man mit Kindern spielt, soll
man nicht sprachlos vor sich hindämmern. Dafür haben sie das denkbar geringste
Verständniß.
„Wir wollen .Rothkäppchen' spielen," hat Hertha entschieden. „Ich bin die
Großmutter", (die Rolle ist ihr auf'n Leib geschrieben!) „und Du bist der Wolf, und
Irene ist Rothkäppchen, und Trudel ist die Mutter, und Ludwig ist der Jäger."
Der Zefopple
Otto Eckmann (Berlin).
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