1898
JUGEND
Nr. 18
Nach einem kurzen Rollenstreit ist alles in Ordnung, und die Vorstellung
kann beginnen. Ich nähere mich Rothkäppchen auf allen Vieren und verbinde
mit einem sehr naturalistischen, fleischliebenden Organ jene heuchlerische Liebens-
würdigkeit, die ein Wols in dieser Situation zu entwickeln Pflegt. Aber das Roth-
käppchen wird ängstlich und läuft fort. Merkwürdig! Ich must brillant spielen.
Aber ich habe meinen Shakespeare nicht ohne Nutzen gelesen. Ich richte mich
also auf und erkläre, daß ich gar kein wirklicher Wolf sei, sondern nur der zärtliche
Vater So-und-so, der keine Menschen zu fressen pflege. Das beruhigt. Allein
sobald ich wieder auf Händen und Füßen herantappe, schreit sie und flüchtet.
Seltsam! Mir fällt ein, daß ich das schon ftüher beobachtet habe. Wenn wir auf
allen Vieren gehen, müssen wir doch noch etwas verdammt Thierähnliches haben.
Vielleicht ist es auch nur bei mir so.
Während des ganzen Spiels hält die Kleinste (die Großmutter) mit krampf-
hafter Zärtlichkeit ihre Puppe im Arm. Diese Puppe schläft mit einem Auge
und wacht mit dem andern, die Farbe ist von ihren Wangen abgeblättert, die
Haare sind nach 17 Richtungen hin verwirrt. Wenn man sie zum ersten Mal
gesehen hat, kann man eine Stunde lang nicht mehr froh werden und sie erscheint
einem die Nacht darauf als Schreckbild im Traume. Das Mädel hat eine zweite,
viel schönere Puppe; aber dieses Monstrum von konzentrirter Scheußlichkeit hat
ihre uugetheilte Liebe. Dieses Völkchen hat überhaupt seine Jdioshnkrasieen.
Solchen Neigungen stehen solche Abneigungen gegenüber. Ich weiß, daß ich als
3—4jähriger Bube ein wirkliches Entsetzen vor einer Figur unseres Puppentheaters
empfand: es war Bertha v. Bruneck aus dem Verlag von Oehmigke & Riem-
schneider in Neu-Ruppin. Ich mochte »och so trotzig und ungeberdig sein — man
zeigte mir Bertha — und ich ward stumm und gefügig. Die Aversion saß so
tief, daß ich noch heutigen Tages etwas gegen das Mädchen habe, trotzdem es
doch eine sehr brave Dame ist. Aesthetisches Feingefühl konnte nicht der Grund
meiner Abneigung sein; denn der Wetter vom Strahl aus derselben Fabrik war
mir aller Schönheit und Herrlichkeit Inbegriff und erschien nur so überirdisch wie
die drei Ritter dem Knaben Pareival.
Die Rothkäppcheuvorstellung hat inzwischen ihr Ende erreicht, nachdem mein
Sohn einige der Wirklichkeit sehr nahe kommende Angriffe aus des Wolfes d. h.
meine Magengegend unternommen hat. Ich habe dabei geradezu genial gezappelt;
ich bin überzeugt, nur Ermete Zaeeoni zappelt noch so. Den Kindern hat es riesig
gefallen, und ich must mir da capo den Bauch aufschneiden lassen und dann noch-
mal und dann nochmal: „Vater," (ich bin abwechselnd Wolf und Vater) „Vater,
noch einmal zappeln!" Und das wird mir jeder zugeben, der nur einmal mit
Kindern gespielt hat: ich hätte in's 20. Jahrhundert htneinzappeln müssen, wenn
ich nicht schließlich durch ein garnicht mißzuverstehendes, dreimal donnerndes
„Nein!" ein Ende gemacht hätte.
Nun ersteht also die Frage nach einem neuen Spiel. „Schule?" „Krämer?"
„Mutter und Kind?" Etwas Dramatisches must es sein, etwas mit Rede und
Gegenrede: das sind die beliebtesten Spiele. Man entscheidet sich für „Mutter und
Kind." Die Mutter: Frl. Hertha, Amanda das Dienstmädchen (alle Dienstmädchen
der Welt heißen für sie Amanda): Frl. Trudel, der Milchmann: meine Wenigkeit
u. s. w. n. s. w. Meine Frau macht darauf aufmerksam, daß noch kein Vater da ist.
„Ach, einen Vater brauchen wir garnicht, nicht Vater?"
„Nee! Sehr überflüssig."
Ludwig soll der „Onkel Doktor" sein. Es soll nämlich das neueste Sen-
sationsstück gespielt werden: „Baby's Bronchialkatarrh." (Ich sehe: ich komme
doch nicht darum herum: es ist auch noch ein Baby da, ebenfalls ein hochbegabtes,
sehr schönes Kind: dafür spricht u. a. das Zeugnist seiner ältesten Schwester. Denn
als sie kürzlich wieder einmal — nach Art der älteren Schwestern — ganz aufgelöst
war vor Entzücken über das Kleine, rief sie die sreudegeflügelten Worte: „Das
hätt' ich nicht geglaubt, daß wir ein so süßes Baby kriegen würden! Das ist
uns mal recht geglückt, nicht Mutter?" — Eine Mutter pflegt in solchem Falle
nicht zu verneinen.) Dieses Baby wird ini Schauspiel durch eine Puppe dargestellt.
Die Akteurs spielen mit ganzer Hingabe, mit vollster eigener Illusion. Der Herr-
Doktor kommt und bejaht die Frage, ob er Baby „bessermachen" könne, unbedingt.
Er sühlt dein Baby den Puls, läßt sich die Zunge zeigen, klopft die Brust und den
Rücken ab, setzt eine kleine Windbüchse ans Brust und Rücken und horcht. - Das
Kind ist denn auch sofort geheilt. Ich glaube, ich lasse den Bengel Arzt werden.
dumme Seeteufel
Otto Eckmann (Berlin).
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Nr. 18
Nach einem kurzen Rollenstreit ist alles in Ordnung, und die Vorstellung
kann beginnen. Ich nähere mich Rothkäppchen auf allen Vieren und verbinde
mit einem sehr naturalistischen, fleischliebenden Organ jene heuchlerische Liebens-
würdigkeit, die ein Wols in dieser Situation zu entwickeln Pflegt. Aber das Roth-
käppchen wird ängstlich und läuft fort. Merkwürdig! Ich must brillant spielen.
Aber ich habe meinen Shakespeare nicht ohne Nutzen gelesen. Ich richte mich
also auf und erkläre, daß ich gar kein wirklicher Wolf sei, sondern nur der zärtliche
Vater So-und-so, der keine Menschen zu fressen pflege. Das beruhigt. Allein
sobald ich wieder auf Händen und Füßen herantappe, schreit sie und flüchtet.
Seltsam! Mir fällt ein, daß ich das schon ftüher beobachtet habe. Wenn wir auf
allen Vieren gehen, müssen wir doch noch etwas verdammt Thierähnliches haben.
Vielleicht ist es auch nur bei mir so.
Während des ganzen Spiels hält die Kleinste (die Großmutter) mit krampf-
hafter Zärtlichkeit ihre Puppe im Arm. Diese Puppe schläft mit einem Auge
und wacht mit dem andern, die Farbe ist von ihren Wangen abgeblättert, die
Haare sind nach 17 Richtungen hin verwirrt. Wenn man sie zum ersten Mal
gesehen hat, kann man eine Stunde lang nicht mehr froh werden und sie erscheint
einem die Nacht darauf als Schreckbild im Traume. Das Mädel hat eine zweite,
viel schönere Puppe; aber dieses Monstrum von konzentrirter Scheußlichkeit hat
ihre uugetheilte Liebe. Dieses Völkchen hat überhaupt seine Jdioshnkrasieen.
Solchen Neigungen stehen solche Abneigungen gegenüber. Ich weiß, daß ich als
3—4jähriger Bube ein wirkliches Entsetzen vor einer Figur unseres Puppentheaters
empfand: es war Bertha v. Bruneck aus dem Verlag von Oehmigke & Riem-
schneider in Neu-Ruppin. Ich mochte »och so trotzig und ungeberdig sein — man
zeigte mir Bertha — und ich ward stumm und gefügig. Die Aversion saß so
tief, daß ich noch heutigen Tages etwas gegen das Mädchen habe, trotzdem es
doch eine sehr brave Dame ist. Aesthetisches Feingefühl konnte nicht der Grund
meiner Abneigung sein; denn der Wetter vom Strahl aus derselben Fabrik war
mir aller Schönheit und Herrlichkeit Inbegriff und erschien nur so überirdisch wie
die drei Ritter dem Knaben Pareival.
Die Rothkäppcheuvorstellung hat inzwischen ihr Ende erreicht, nachdem mein
Sohn einige der Wirklichkeit sehr nahe kommende Angriffe aus des Wolfes d. h.
meine Magengegend unternommen hat. Ich habe dabei geradezu genial gezappelt;
ich bin überzeugt, nur Ermete Zaeeoni zappelt noch so. Den Kindern hat es riesig
gefallen, und ich must mir da capo den Bauch aufschneiden lassen und dann noch-
mal und dann nochmal: „Vater," (ich bin abwechselnd Wolf und Vater) „Vater,
noch einmal zappeln!" Und das wird mir jeder zugeben, der nur einmal mit
Kindern gespielt hat: ich hätte in's 20. Jahrhundert htneinzappeln müssen, wenn
ich nicht schließlich durch ein garnicht mißzuverstehendes, dreimal donnerndes
„Nein!" ein Ende gemacht hätte.
Nun ersteht also die Frage nach einem neuen Spiel. „Schule?" „Krämer?"
„Mutter und Kind?" Etwas Dramatisches must es sein, etwas mit Rede und
Gegenrede: das sind die beliebtesten Spiele. Man entscheidet sich für „Mutter und
Kind." Die Mutter: Frl. Hertha, Amanda das Dienstmädchen (alle Dienstmädchen
der Welt heißen für sie Amanda): Frl. Trudel, der Milchmann: meine Wenigkeit
u. s. w. n. s. w. Meine Frau macht darauf aufmerksam, daß noch kein Vater da ist.
„Ach, einen Vater brauchen wir garnicht, nicht Vater?"
„Nee! Sehr überflüssig."
Ludwig soll der „Onkel Doktor" sein. Es soll nämlich das neueste Sen-
sationsstück gespielt werden: „Baby's Bronchialkatarrh." (Ich sehe: ich komme
doch nicht darum herum: es ist auch noch ein Baby da, ebenfalls ein hochbegabtes,
sehr schönes Kind: dafür spricht u. a. das Zeugnist seiner ältesten Schwester. Denn
als sie kürzlich wieder einmal — nach Art der älteren Schwestern — ganz aufgelöst
war vor Entzücken über das Kleine, rief sie die sreudegeflügelten Worte: „Das
hätt' ich nicht geglaubt, daß wir ein so süßes Baby kriegen würden! Das ist
uns mal recht geglückt, nicht Mutter?" — Eine Mutter pflegt in solchem Falle
nicht zu verneinen.) Dieses Baby wird ini Schauspiel durch eine Puppe dargestellt.
Die Akteurs spielen mit ganzer Hingabe, mit vollster eigener Illusion. Der Herr-
Doktor kommt und bejaht die Frage, ob er Baby „bessermachen" könne, unbedingt.
Er sühlt dein Baby den Puls, läßt sich die Zunge zeigen, klopft die Brust und den
Rücken ab, setzt eine kleine Windbüchse ans Brust und Rücken und horcht. - Das
Kind ist denn auch sofort geheilt. Ich glaube, ich lasse den Bengel Arzt werden.
dumme Seeteufel
Otto Eckmann (Berlin).
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