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1898

JUGEND

Nr. 22

fassung von der Tragik des Daseins. Die künst-
lerische Form zur Darstellung dieses Zusammen-
hangslvsen, Episodische», von Katastrophe zu
Katastrophe in's Nichts dahin Stürzen, — die
künstlerische Form dafür ist gerade die Skizze.
Nicht Ungeschick und Zufall ließen Kipling seinen
Roman in Skizzen zerreißen. Ein anderes Mal,
da er die Dialogform ivühlt, um einen Lebens-
lauf zu schildern, in den „GadsbyS" macht er
es ebenso . . . Durch dies Zusammenstimmen
der melancholischen Fragwürdigkeit unseres Da-
seins mit dem Unzulänglichen, Unvollendeten
der Skizzenform erreichen die Russen so starke
Kunsteffekte. Alle sind sie Meister in der Skizze.
Sie unterscheiden sich durch Ausfassung und Dar-
stellung scharf von den Dichtern anderer Na-
tionen. Die französische Skizze ist stets auf's
feinste herausciselirt, was sie auch enthalte: eine
witzige Anekdote, eine geistreiche Beobachtung,
eine groteske Situation, eine rührende Gestalt.
Sie ist klar, einfach und bis in's Detail vollendet,.
— im Gefühl, im Gedanken, im Ausdruck auf die
Pointe gearbeitet. Der Engländer legt den Haupt-
Werth auf das Thatsttchliche. Genau und gut sehen,
das Wesentliche wiedergeben, mit jener Discrc-
tion in der Empfindung, die aus Schwermnth
und Zorn den Humor destillirt. Anders der
Russe. Er ist ein Kind der weiten, endlosen
Ebene. Erhebungen kennt er nicht und nicht den
Blick aus der Vogelperspektive. Was „wesent-
lich" ist, weiß er nicht. Er versteht sich nicht auf
Haupt- und Nebensachen. In jedem Detail kann
das Wichtige stecken. Es gehört zur Gesammt-
erscheimmg. Zum Classificiren, Abstrahiren,
Typensuchen ist er noch nicht vorgedrungen. Er
sieht Porträts, Einzelmenschen. Aber sie sind
für ihn nicht Einzelmenschen. Er ist ein Grübler.
Feder Einzelne ist ihm ein Gesäß Gottes; das

BELLADONNA

geringste Wesen hat eine dunkle Bestimmung;
in jedes Geschöpf ist ein Göttliches gelegt. In
seinen „Senilia" erzählt Turgeniew, er habe sich
einmal als Jüngling in einer Dorfkirche gesehen.
Da trat Jemand von rückivärts an seine Seite.
Er fühlte sofort, das sei Christus. Endlich wagt
er es, ihn anzusehen. Der Fremde schaute aus
wie alle um ihn, ganz wie ein einfacher, junger,
schlichter Bauer, klnd dennoch wußte er, es sei
Christus . . . Das ist acht russisch. In jedem
Menschen sicht der Russe Gott, in jeden. Leiden-
den erkennt er Christus, vor allein Unglück fällt
er in die Knie. Im Dulden, Mitdulden sind ihm
alle Menschen Brüder und Schwestern. Ein
warmer Hauch von Liebe umfließt seine Gestalten.
Jede Figur für sich ist ungemein detaillirt und
reich gesehen, aber sie ist ihm nur ein Theil, ein
Stück russisches Volksthum, ein Stück Menschheit,
Gott, der immer wieder leiden, sterben und auf-
erstehen muß. Das ist der tiefe Unterstrom der
modernen, russischen Dichtung, den man bei der
leichtesten Kräuselung der Oberfläche als etwas
Mächtiges, fast drohend Großes mitspürt. Hinter
jeder Figur, so einfältig, lächerlich, sündig sie sei,
steht das, — das leidende Volk, die leidende
Menschheit, die leidende Gottheit. Die unge-
heuere, kindliche, naive Kraft und Innigkeit der
Empfindung, die breite und reiche Holzschnitt-
manier und die seelenvolle Auffassung der Welt
als eines nntheilbaren, lebendigen und geheim-
uißvollcn Ganzen charakterisircn die russische
Skizze. Mensch und Erde sind nicht von ein-
ander zu trennen, der Russe nicht von seiner
Heimat. Zum ersten Mal erscheint hier die Land-
schaft in der Skizze, und zwar nicht bloß als
dekorativer Hintergrund, sondern als gleichwerthig
mit dem Menschen, ja, sie überwachst säst den
Menschen. Wie ein betäubender Frühlingsbrodem

tllisaberb Hähnel (München).

raucht aus ihr die Stimmung auf und nimmt
Dir die Freiheit des Denkens und Athmens. Die
Natur hat in dieser Stimmung eine Sprache ge-
wonnen, die stärker ist als alle menschlichen
Sprachen, die wirkt wie Musik, unmittelbar, von
Gefühl zu Gefühl. . . Noch reicher und inten-
siver jedoch haben die Skandinavier die Stim-
mungsskizze ausgebildet. Nicht als fehlte ihnen
ein anderer Skizzengehalt. Sie haben auch
Skizzen in französischer, in englischer Manier.
Peter Nansen hat feine, witzige, frivole Sachen
geschrieben, deren Maupassant sich nicht zu sehr
schämen müßte. Alexander Kielland verstand es,
mit zwei Tinten — er kannte nur Schwarz und
Weiß — satirische Radirungen herzustellen, deren
Einfachheit und Schürfe an Strich, deren geist-
reiche Licht- und Schaktenvertheiluug nicht anders
als französisch genannt werden kann, A. v. Hedcn-
stjerna repräsentirt die englische Art. Die original-
skandinavische ist eine ändere. Zuerst hat sie,
glaube ich, Jonas Lie gefunden. Er hat zuerst
die Melodie gehört und in Worte gefaßt, die
aus der Natur seiner Heimat klingt. Aus dem
Lnndschaftszanber hat er Gestalten und Schick-
sale geschaffen. Sogar sein Stil sieht aus wie
ein wildknorriger, wurzeldurchwachsener, würzig
frischer Urwaldboden. Die eigenthümlichste Aus-
gestaltung hat die skandinavische Skizze jedoch
bei zwei Schweden gefunden: bei Ola Hansson
und bei Per Hallström. So ivach und so ver-
träumt zugleich sind zwei Poeten selten je ge-
wesen. Sie sind beide rafsinirte Psychologen,
die den Menschen gar nicht nuancirt genug sehen
können; aber sie dringen von der bunten Seelen-
oberfläche gern in die dunklen Tiefen, aus denen
das farbige Lichtbüschel brach, bis dorthinein,
wo die Ahnung das Berständniß ergänzt. Und
ebenso sind sie in der äußeren Welt zugleich

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Elisabeth Hähnel: Belladonna
 
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