1898
* JUGEND *
Nr. 22
Vom Küssen
War ich gar so jung und dumm,
Wollte gerne wissen:
„Warum ist mein Mund so roth ?“
Sprach der Mai:
„Zum Küssen.“
Als der Nebel schlich durchs Land,
Hab ich fragen müssen:
„Warum ist mein Mund so blass?“
Sprach der Herbst:
„Vom Küssen.“
Anna Ritter.
Splitter
Eine Frau, die Geist hat, muß sehr liebens-
würdig, sehr anmuthig sein, damit er
ihr verziehen werde.
Fremden ungefragt die „Wahrheit" sagen
zu wollen, ist eine Rücksichtslosigkeit wie
bei offenen Fenstern Rlavicr zu spielen
und andere dadurch zum Hören zu
zwingen.
Reine Frau ist so alt, daß sie nicht in einer
großen Liebe wieder aufzublühen und
sich zu verjüngen vermöchte. Sic gleicht
darin der welken Rose von Jericho, die
in ihr eigenes Element versetzt, sich wieder
von neuem entfaltet.
Llara L'ysell-Lilburger.
?«•
Eine Charakterstudie
Als in Loocky-Bar, einem kleinen Neste
nicht weit von San Francisco, der sehr ehren-
werthe Gentleman John Fennimore Snothering
bei dem sehr ehrenwerthen Gentleman Samuel
Columbus Hobbs um die Hand von dessen
Tochter Polly anhielt, entspann sich zwischen
Beiden folgendes Gespräch.
„Ich will gehängt sein,“ begann Samuel
Columbus, „wenn Euer Antrag keine Ehre für
Polly ist. Nichtsdestoweniger ist sie das hüb-
scheste Mädchen, welches jemals den Männern
den Kopf verdreht hat, und es ist die aus-
gemachteste Sache von der Welt, dass es in
ganz Californien keinen jungen Mann gibt, den
sie nicht augenblicklich heirathen könnte, wenn
es ihr beliebte. Um jedoch einen Gentleman
von Euren Qualitäten nicht zu kränken, gebe
ich sie Euch. Wieviel gedenkt Ihr mir dafür
zu zahlen? Denn Ihr begreift, dass ein Mäd-
chen wie Polly ihres Preises werth ist.“
„Ich will gehängt sein,“ antwortete darauf
John Fennimore, „wenn ich nicht ziemlich
sicher bin, dass Eure Polly ein verdammt
hübsches Mädchen ist. Indessen handelt es
sich gar nicht darum, sondern um ihren Cha-
rakter und um den Charakter ihrer Eltern.
Denn Ihr begreift, dass ein Gentleman wie ich
in dieser Beziehung seine Ansprüche macht.
Es geht in der Umgegend das Gerücht, dass
Ihr vor einiger Zeit eine Reise unternommen
habt, um Pferde zu holen, die nicht Euch ge-
hörten. He, Hobbs, was sagt Ihr dazu?“
„Ich will auf der Stelle verdammt sein,“
sagte darauf Samuel Columbus, „wenn an der
ganzen Geschichte ein einziges wahres Wort
ist. Die Thatsache ist, dass ich eines Tages
zwischen Loocky-Bar und Frisco einen Strick
fand, den ich aufhob und mit mir nahm.
Zufällig war am andern Ende ein Pferd an-
gebunden, was ich erst bemerkte, als es zu
spät war. So habe ich zwei Jahre unschuldig
im Gefängniss zu Frisco gebrummt. Ich bitte
Euch, reden wir nicht mehr davon. Es würde
mich kränken.“
„Ich würdige Eure Gefühle,“ sagte John
Fennimore. „Erlaubt mir nur, etwas zu sagen,
was Eure Frau angeht. Man erzählt sich, dass
die Hühner, welche sie brate, besser zubereitet
wären, als Mr. Vanderbilts Frühstückshuhn;
dass sie indessen den Fehler dabei begehe,
die Hühner aus einem Stalle zu holen, der
nicht ihr gehöre. Ich bin neugierig, was Ihr
mir darauf antworten werdet, Samuel Columbus.“
„John Fennimore,“ antwortete Samuel Co-
lumbus, „ich denke, Ihr kennt mich. Ich bin
ein ehrlicher Mann, sowahr nur je ein ehr-
licher Mann verleumdet wurde in dieser nichts-
nutzigen Welt, die Gott verdamme. Welchen
Vortheil hätte ich davon, Euch die Wahrheit
zu verschweigen, da die Wahrheit ist, dass
mein Weib unschuldig ist. Die Geschichte
hat sich, um ohne weitere Umschweife zu
reden, so zugetragen, dass man mein Weib
eines Nachts in einem wildfremden Hühner-
stall gefunden hat. Sie hat niemals erklären
können, wie sie dahin gekommen ist. Aber
das Individuum, welches zu jener Zeit den
Richterstuhl drückte, Hess trotzdem die Sache
nicht auf sich beruhen, weil es mir nicht grün
war, und so musste mein armes Weib auf ein
Jahr in’s Loch. Sie hat ihre Zeit ehrlich ab-
gesessen, und wer das bestreitet, der lügt, ge-
rade heraus gesagt. Könnt Ihr mir den Kerl
nennen, Snothering, so werde ich nächstens
mit ihm abrechnen.“
„Ich habe nicht gehört, dass Jemand dies
bestreitet,“ erwiderte John Fennimore Sno-
thering. „Aber was ist das für eine Geschichte
mit Eurer Tochter?“
„Eine Geschichte mit meiner Tochter?“
rief Samuel Columbus. „Was ist das für eine
Geschichte? Ich will nicht hoffen, dass diese
Bande meiner Polly nachsagt, sie gehe mit
Dingen um, die nicht ihr gehörten?“
„Im Gegentheil,“ meinte darauf John Fen-
nimore. „Man sagt, dass der hübsche Kleine,
mit dem sie umgeht, ihr gehöre. Ich bin
sicher, Hobbs, dass Ihr mir so antworten
werdet, wie es sich unter Gentlemen gebührt.“
„Ihr thut wohl, nicht daran zu zweifeln,“
sagte Samuel Columbus mit Würde, „und ich
will Euch ohne Umschweife die Antwort ge-
ben. Ihr habt vorhin gesagt, dass meine Polly
ein verdammt hübsches Mädchen sei. Das-
selbe hat ihr vor etwa einem Jahre ein an-
derer Gentleman auch gesagt. Inzwischen
ist der Gentleman wegen irgend einer andern
Sache aufgehängt worden. Das war ein Mal-
heur. Indessen — Ihr wisst, dass man ge-
schehene Dinge in diesem Leben nicht mehr
ungeschehen machen kann. Füge ich nun
noch hinzu, dass ich meiner Polly an hundert
Dollars in baar und mein bestes Pferd mit-
gebe, so habe ich Euch alles gesagt, was ich
Euch über meinen Charakter und meine Familie
sagen kann. Nun, und wie steht es mit dem
Eurigen, John Fennimore?“
„Mein Charakter?“ fragte John Fennimore.
„Ich will Euch was sagen, Hobbs, ich bin
kein Freund von vielen Worten. Ihr gebt
Eurer Polly hundert Dollars baar und Euer
bestes Pferd mit? Well, ich heirathe sie.
Da habt Ihr meinen Charakter.“
Kory Towska.
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Vom Küssen
War ich gar so jung und dumm,
Wollte gerne wissen:
„Warum ist mein Mund so roth ?“
Sprach der Mai:
„Zum Küssen.“
Als der Nebel schlich durchs Land,
Hab ich fragen müssen:
„Warum ist mein Mund so blass?“
Sprach der Herbst:
„Vom Küssen.“
Anna Ritter.
Splitter
Eine Frau, die Geist hat, muß sehr liebens-
würdig, sehr anmuthig sein, damit er
ihr verziehen werde.
Fremden ungefragt die „Wahrheit" sagen
zu wollen, ist eine Rücksichtslosigkeit wie
bei offenen Fenstern Rlavicr zu spielen
und andere dadurch zum Hören zu
zwingen.
Reine Frau ist so alt, daß sie nicht in einer
großen Liebe wieder aufzublühen und
sich zu verjüngen vermöchte. Sic gleicht
darin der welken Rose von Jericho, die
in ihr eigenes Element versetzt, sich wieder
von neuem entfaltet.
Llara L'ysell-Lilburger.
?«•
Eine Charakterstudie
Als in Loocky-Bar, einem kleinen Neste
nicht weit von San Francisco, der sehr ehren-
werthe Gentleman John Fennimore Snothering
bei dem sehr ehrenwerthen Gentleman Samuel
Columbus Hobbs um die Hand von dessen
Tochter Polly anhielt, entspann sich zwischen
Beiden folgendes Gespräch.
„Ich will gehängt sein,“ begann Samuel
Columbus, „wenn Euer Antrag keine Ehre für
Polly ist. Nichtsdestoweniger ist sie das hüb-
scheste Mädchen, welches jemals den Männern
den Kopf verdreht hat, und es ist die aus-
gemachteste Sache von der Welt, dass es in
ganz Californien keinen jungen Mann gibt, den
sie nicht augenblicklich heirathen könnte, wenn
es ihr beliebte. Um jedoch einen Gentleman
von Euren Qualitäten nicht zu kränken, gebe
ich sie Euch. Wieviel gedenkt Ihr mir dafür
zu zahlen? Denn Ihr begreift, dass ein Mäd-
chen wie Polly ihres Preises werth ist.“
„Ich will gehängt sein,“ antwortete darauf
John Fennimore, „wenn ich nicht ziemlich
sicher bin, dass Eure Polly ein verdammt
hübsches Mädchen ist. Indessen handelt es
sich gar nicht darum, sondern um ihren Cha-
rakter und um den Charakter ihrer Eltern.
Denn Ihr begreift, dass ein Gentleman wie ich
in dieser Beziehung seine Ansprüche macht.
Es geht in der Umgegend das Gerücht, dass
Ihr vor einiger Zeit eine Reise unternommen
habt, um Pferde zu holen, die nicht Euch ge-
hörten. He, Hobbs, was sagt Ihr dazu?“
„Ich will auf der Stelle verdammt sein,“
sagte darauf Samuel Columbus, „wenn an der
ganzen Geschichte ein einziges wahres Wort
ist. Die Thatsache ist, dass ich eines Tages
zwischen Loocky-Bar und Frisco einen Strick
fand, den ich aufhob und mit mir nahm.
Zufällig war am andern Ende ein Pferd an-
gebunden, was ich erst bemerkte, als es zu
spät war. So habe ich zwei Jahre unschuldig
im Gefängniss zu Frisco gebrummt. Ich bitte
Euch, reden wir nicht mehr davon. Es würde
mich kränken.“
„Ich würdige Eure Gefühle,“ sagte John
Fennimore. „Erlaubt mir nur, etwas zu sagen,
was Eure Frau angeht. Man erzählt sich, dass
die Hühner, welche sie brate, besser zubereitet
wären, als Mr. Vanderbilts Frühstückshuhn;
dass sie indessen den Fehler dabei begehe,
die Hühner aus einem Stalle zu holen, der
nicht ihr gehöre. Ich bin neugierig, was Ihr
mir darauf antworten werdet, Samuel Columbus.“
„John Fennimore,“ antwortete Samuel Co-
lumbus, „ich denke, Ihr kennt mich. Ich bin
ein ehrlicher Mann, sowahr nur je ein ehr-
licher Mann verleumdet wurde in dieser nichts-
nutzigen Welt, die Gott verdamme. Welchen
Vortheil hätte ich davon, Euch die Wahrheit
zu verschweigen, da die Wahrheit ist, dass
mein Weib unschuldig ist. Die Geschichte
hat sich, um ohne weitere Umschweife zu
reden, so zugetragen, dass man mein Weib
eines Nachts in einem wildfremden Hühner-
stall gefunden hat. Sie hat niemals erklären
können, wie sie dahin gekommen ist. Aber
das Individuum, welches zu jener Zeit den
Richterstuhl drückte, Hess trotzdem die Sache
nicht auf sich beruhen, weil es mir nicht grün
war, und so musste mein armes Weib auf ein
Jahr in’s Loch. Sie hat ihre Zeit ehrlich ab-
gesessen, und wer das bestreitet, der lügt, ge-
rade heraus gesagt. Könnt Ihr mir den Kerl
nennen, Snothering, so werde ich nächstens
mit ihm abrechnen.“
„Ich habe nicht gehört, dass Jemand dies
bestreitet,“ erwiderte John Fennimore Sno-
thering. „Aber was ist das für eine Geschichte
mit Eurer Tochter?“
„Eine Geschichte mit meiner Tochter?“
rief Samuel Columbus. „Was ist das für eine
Geschichte? Ich will nicht hoffen, dass diese
Bande meiner Polly nachsagt, sie gehe mit
Dingen um, die nicht ihr gehörten?“
„Im Gegentheil,“ meinte darauf John Fen-
nimore. „Man sagt, dass der hübsche Kleine,
mit dem sie umgeht, ihr gehöre. Ich bin
sicher, Hobbs, dass Ihr mir so antworten
werdet, wie es sich unter Gentlemen gebührt.“
„Ihr thut wohl, nicht daran zu zweifeln,“
sagte Samuel Columbus mit Würde, „und ich
will Euch ohne Umschweife die Antwort ge-
ben. Ihr habt vorhin gesagt, dass meine Polly
ein verdammt hübsches Mädchen sei. Das-
selbe hat ihr vor etwa einem Jahre ein an-
derer Gentleman auch gesagt. Inzwischen
ist der Gentleman wegen irgend einer andern
Sache aufgehängt worden. Das war ein Mal-
heur. Indessen — Ihr wisst, dass man ge-
schehene Dinge in diesem Leben nicht mehr
ungeschehen machen kann. Füge ich nun
noch hinzu, dass ich meiner Polly an hundert
Dollars in baar und mein bestes Pferd mit-
gebe, so habe ich Euch alles gesagt, was ich
Euch über meinen Charakter und meine Familie
sagen kann. Nun, und wie steht es mit dem
Eurigen, John Fennimore?“
„Mein Charakter?“ fragte John Fennimore.
„Ich will Euch was sagen, Hobbs, ich bin
kein Freund von vielen Worten. Ihr gebt
Eurer Polly hundert Dollars baar und Euer
bestes Pferd mit? Well, ich heirathe sie.
Da habt Ihr meinen Charakter.“
Kory Towska.
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