Nr. 23
* JUGEND *
1893
bleiben und sich küssen, oder, die Hände
verschränkt, dicht vor einander stehen,
Körper an Körper und sich in die Augen
sehen und wie sie sich am Ende der AUee
zwischen den Feldern verlieren. . .
Drüben über dem Hausfirst erhebt sich
der runde Mond wie ein silbernes Wölk-
chen. — Zn den Ligusterbüschen schluchzt
eine Rachtigal . . .
EHie wilden ^Manse
Zn der Rachtstille standen wir auf
dem Balkon, über den Gärten.
Der ganze Himmel mit seinen Sternen
schwamm im Silber des Mondes.
Die Hyacinthen dufteten von ihren
Beeten herüber und die jungen Reiser,
Knospen und Blättchen glimmten in
einem silberigen Glast.
Da sahen wir die feine Zickzacklinie,
die sich hoch über uns durch die Klarheit
der Höhen hinbewegte. Das waren die
wilden Gänse, die gen Rorden zogen.
Aus den weiteinsamen gleißenden Mond-
höhen drang ihr ferner Jubel zu uns
hernieder.
Das war die Kunde vom Süden und
von dem neuen großen Leben.
Wie wundersam die Gärten er-
brausten I . . .
der >Eicrr Atzegistrator
Run hat auch der alte Herr Registrator
seinen Ueberzieher abgelegt.
Jeden Morgen treff' ich ihn an der-
selben Stelle der Promenade unter der
großen Tamariske.
Wie fröhlich und munter er an mir
vorübertappelt in seinem schwarzen Schooß-
rock, mit seinem spanischen Rohr, seiner
schwarzen Halsbinde!
Das rothe Gesicht mit seinem schloh-
weißen Haar unter dem glänzend schwarzen
Cylinder. — Bor dem Tulpenbeet nimmt er
ihn ab und bleibt stehen und sieht
auf das große Rundtheil mit sei-
nen vielen grellrothen Blumen,
die sich so schön aus der lichten,
grünen wiesenfiäche abheben.
Dann zieht er sein gelbseidenes
Taschentuch, schneuzt sich, lächelt,
spricht etwas vor sich hin, nickt
mit dem Kopfe und tappelt
weiter....
jf?
Der Arzt vo»t Lucugnan
Nach dem Provengalischen des 3. Aouiiianille.
/jffis mar einmal ein Arzt, der wußte vielerlei,
W denn er hatte viel gelernt, und doch hatte
man in Lucugnan, wo er sich vor zwei Jahren
niedergelassen, kein vertrauen zu ihm. Du
lieber Gott! wenn die Lucugnaner ihm mit
einem Buche in der Hand begegneten, dann
sagten sie sich: „Lr weiß nichts, gar nichts,
unser Arzt; denn er liest unaufhörlich; un-
aufhörlich liest er. wenn er studiert, so thut
er das, um zu lernen; wenn er aber noch
lernen muß, so weiß er nichts; und wenn er
nichts weiß, so ist er ein Dummkopf."
Darüber kamen sie nicht hinweg . . . und
deshalb hatten sie kein vertrauen zu ihm.
Lin Arzt ohne Kranke ist eine Lampe ohne
Del. Und man muß doch seinen elenden
Lebensunterhalt verdienen; unser armer Teufel
verdiente nicht einmal das Wasser, das er trank.
Ls war hohe Zeit, daß das ein Lnde nahm!
Lines Tages ließ er daher in ganz Lu-
cugnan verkünden, sein wissen wäre so groß,
so mächtig, so erhaben, daß er sich anheischig
machen wolle — nicht nur einen Kranken
gesund zu machen — was ein Kinderspiel ist
— sondern sogar einen Todten wiederanfzu-
erwecken, was man ein richtiges Gotteswunder
nennen kann! — „Ja, ja, einen Todten,"
ließ er sagen, „und zwar einen begrabenen
Todten! . . . Und zwar werde ich ihn auf>
erwecken, wenn man will, am Hellen lichten
Tage, auf dem Kirchhof, coram publico."
Die Leute, die seinen Worten glaubten,
waren nicht allzu zahlreich; aber diese Un-
gläubigen sagte» sich trotzdem: „was ris-
kiren wir denn, wenn wir ihn auf die Probe
stellen? Ulan muß ihn bei der Arbeit sehen;
an der Arbeit erkennt man den Arbeiter. Ls
kann ihm ja glücken; er hat ja so viel, so
viel gelesen, und es finden heutzutage so schöne
Lntdeckungen statt! Und wenn er das Wunder
vollführt, so werden wir in die Hände klat-
schen; gelingt es ihm aber nicht, dann zischen
wir ihn ans. Lr soll einen Todten aufer-
wecken, und wir werden sehen, ob er Grütze
oder Stroh im Schädel hat."
Gut! es wurde also abgemacht: der Herr
Doktor sollte am nächsten Sonntag, Schlag
;2 Uhr Mittag, mitten auf dem Kirchhofe zu
Lucugnan einen Todten erwecken; wenn es
E. Ewerbeck.
sein müßte, sogar zwei; es gab sogar einige
Klatschweiber, die von neun oder zehn sprachen!
An diesem Sonntag war daher weit vor
der festgesetzten Stunde der Kirchhof von Lu-
cugnan gedrängt voll wie die Kirche bei der
Messe am heiligen Dstersonntag. Der zweite
Schlag der Mittagsstunde war noch nicht ver-
klungen, als der Arzt seinem versprechen ge-
mäß erschien und zwar vollständig schwarz
gekleidet. Er hatte große Mühe und mußte
die Ellenbogen gebrauchen, um sich bis zum
Kreuz durchzudrängen und auf ein kleines
Trittbrett zu stellen.
Hier grüßte er die Anwesenden, räusperte
sich, schnäuzte sich und begann:
„Meine Freunde, ich habe Luch versprochen,
einen Todten zu erwecken und werde mein
Wort halten. Darauf erhebe ich die Hand!
Bitte, Ruhe! Ich versichere Luch, ich vermag
ebenso leicht Jaques oder Jean in's Leben zu-
rückznrufen wie Nanon oder Babette, oder
Llaude oder Simon, wünscht Ihr, daß ich ...
Simon anferwecke? wie nanntet Ihr ihn
doch noch? ... ach ja, Simon Labanie, der vor
bald einem Jahre an einer bösen Brustfell-
entzündung gestorben ist?"
„Verzeihung, Herr Arzt," fiel ihm Latharine,
- ie Wittwe des armen Simon in's Wort. „Lr
war gewiß ein braver Mann! er machte mich
glücklich und ich werde ihn beweinen, so lange
mir Gott die Augen im Kopse erhält. Aber
erweckt ihn nicht wieder; denn seht, gegen
Ende des Monats werde ich die Trauer ab-
legen und mich — meine verwandten wollten
es so — wieder mit dem langen Pascal ver-
heirathen. Heut in acht Tage» wird das erste
und letzte Aufgebot verkündet; die Geschenke
habe ich bereits erhalten."
„Ls ist recht von Luch, daß Ihr mir das
gesagt, Latharine. Nun, wie wär's, wenn
ich Nanon Larotte auferweckte, die man zu
Lichtmeß begrub?"
„Laßt Luch das nicht einfallen, Herr Arzt,"
rief Jacques Lamöle. Nanon war meine
Fra», wir haben zehn Jahre zusammen ge-
lebt, zehn Jahre Fegefeuer, ganz Lucugnan
weiß es. Nanon mag bleiben, wo sie ist, um
meiner und ihrer Ruhe willen. Der
wahre Drache, Herr! eigensinnig
wie ein Esel, dazu faul und streit-
süchtig, und schmutzig und zerlumpt!
Dabei machte sie lange Finger und
eine Zunge, eine Viperzunge, Herr,
gegen die man nicht auskommen
konnte! Und ... ich sage noch
nicht alles!"
„Aber, meine Freunde . . ."
„Verzeihung, wenn ich Luch
wehe thue, Herr Arzt. Aber Ihr
wißt, todte Frau, neuer Hut! Und
da Nanon mir drei Bälger hinter-
lassen hat, die mir auf dem Halse
liege», so habe ich mich wieder
verheirathct. Ls ist also ganz unnütz ..
„<2s ist gut. Ich verstehe. Ls ist klar,
es wäre für Dich eine grausame Strafe, wenn
Du zwei Frauen im Hause hättest! An einer
ist's genug, ja, manchmal . . . schon zu viel!
. - . Dann werde ich also einen andern auf-
erwecken . . . denn schließlich muß ich doch
einen auferwecken, Ihr guten Leute... Zum
Beispiel, den braven Meister Pierre."
;88
* JUGEND *
1893
bleiben und sich küssen, oder, die Hände
verschränkt, dicht vor einander stehen,
Körper an Körper und sich in die Augen
sehen und wie sie sich am Ende der AUee
zwischen den Feldern verlieren. . .
Drüben über dem Hausfirst erhebt sich
der runde Mond wie ein silbernes Wölk-
chen. — Zn den Ligusterbüschen schluchzt
eine Rachtigal . . .
EHie wilden ^Manse
Zn der Rachtstille standen wir auf
dem Balkon, über den Gärten.
Der ganze Himmel mit seinen Sternen
schwamm im Silber des Mondes.
Die Hyacinthen dufteten von ihren
Beeten herüber und die jungen Reiser,
Knospen und Blättchen glimmten in
einem silberigen Glast.
Da sahen wir die feine Zickzacklinie,
die sich hoch über uns durch die Klarheit
der Höhen hinbewegte. Das waren die
wilden Gänse, die gen Rorden zogen.
Aus den weiteinsamen gleißenden Mond-
höhen drang ihr ferner Jubel zu uns
hernieder.
Das war die Kunde vom Süden und
von dem neuen großen Leben.
Wie wundersam die Gärten er-
brausten I . . .
der >Eicrr Atzegistrator
Run hat auch der alte Herr Registrator
seinen Ueberzieher abgelegt.
Jeden Morgen treff' ich ihn an der-
selben Stelle der Promenade unter der
großen Tamariske.
Wie fröhlich und munter er an mir
vorübertappelt in seinem schwarzen Schooß-
rock, mit seinem spanischen Rohr, seiner
schwarzen Halsbinde!
Das rothe Gesicht mit seinem schloh-
weißen Haar unter dem glänzend schwarzen
Cylinder. — Bor dem Tulpenbeet nimmt er
ihn ab und bleibt stehen und sieht
auf das große Rundtheil mit sei-
nen vielen grellrothen Blumen,
die sich so schön aus der lichten,
grünen wiesenfiäche abheben.
Dann zieht er sein gelbseidenes
Taschentuch, schneuzt sich, lächelt,
spricht etwas vor sich hin, nickt
mit dem Kopfe und tappelt
weiter....
jf?
Der Arzt vo»t Lucugnan
Nach dem Provengalischen des 3. Aouiiianille.
/jffis mar einmal ein Arzt, der wußte vielerlei,
W denn er hatte viel gelernt, und doch hatte
man in Lucugnan, wo er sich vor zwei Jahren
niedergelassen, kein vertrauen zu ihm. Du
lieber Gott! wenn die Lucugnaner ihm mit
einem Buche in der Hand begegneten, dann
sagten sie sich: „Lr weiß nichts, gar nichts,
unser Arzt; denn er liest unaufhörlich; un-
aufhörlich liest er. wenn er studiert, so thut
er das, um zu lernen; wenn er aber noch
lernen muß, so weiß er nichts; und wenn er
nichts weiß, so ist er ein Dummkopf."
Darüber kamen sie nicht hinweg . . . und
deshalb hatten sie kein vertrauen zu ihm.
Lin Arzt ohne Kranke ist eine Lampe ohne
Del. Und man muß doch seinen elenden
Lebensunterhalt verdienen; unser armer Teufel
verdiente nicht einmal das Wasser, das er trank.
Ls war hohe Zeit, daß das ein Lnde nahm!
Lines Tages ließ er daher in ganz Lu-
cugnan verkünden, sein wissen wäre so groß,
so mächtig, so erhaben, daß er sich anheischig
machen wolle — nicht nur einen Kranken
gesund zu machen — was ein Kinderspiel ist
— sondern sogar einen Todten wiederanfzu-
erwecken, was man ein richtiges Gotteswunder
nennen kann! — „Ja, ja, einen Todten,"
ließ er sagen, „und zwar einen begrabenen
Todten! . . . Und zwar werde ich ihn auf>
erwecken, wenn man will, am Hellen lichten
Tage, auf dem Kirchhof, coram publico."
Die Leute, die seinen Worten glaubten,
waren nicht allzu zahlreich; aber diese Un-
gläubigen sagte» sich trotzdem: „was ris-
kiren wir denn, wenn wir ihn auf die Probe
stellen? Ulan muß ihn bei der Arbeit sehen;
an der Arbeit erkennt man den Arbeiter. Ls
kann ihm ja glücken; er hat ja so viel, so
viel gelesen, und es finden heutzutage so schöne
Lntdeckungen statt! Und wenn er das Wunder
vollführt, so werden wir in die Hände klat-
schen; gelingt es ihm aber nicht, dann zischen
wir ihn ans. Lr soll einen Todten aufer-
wecken, und wir werden sehen, ob er Grütze
oder Stroh im Schädel hat."
Gut! es wurde also abgemacht: der Herr
Doktor sollte am nächsten Sonntag, Schlag
;2 Uhr Mittag, mitten auf dem Kirchhofe zu
Lucugnan einen Todten erwecken; wenn es
E. Ewerbeck.
sein müßte, sogar zwei; es gab sogar einige
Klatschweiber, die von neun oder zehn sprachen!
An diesem Sonntag war daher weit vor
der festgesetzten Stunde der Kirchhof von Lu-
cugnan gedrängt voll wie die Kirche bei der
Messe am heiligen Dstersonntag. Der zweite
Schlag der Mittagsstunde war noch nicht ver-
klungen, als der Arzt seinem versprechen ge-
mäß erschien und zwar vollständig schwarz
gekleidet. Er hatte große Mühe und mußte
die Ellenbogen gebrauchen, um sich bis zum
Kreuz durchzudrängen und auf ein kleines
Trittbrett zu stellen.
Hier grüßte er die Anwesenden, räusperte
sich, schnäuzte sich und begann:
„Meine Freunde, ich habe Luch versprochen,
einen Todten zu erwecken und werde mein
Wort halten. Darauf erhebe ich die Hand!
Bitte, Ruhe! Ich versichere Luch, ich vermag
ebenso leicht Jaques oder Jean in's Leben zu-
rückznrufen wie Nanon oder Babette, oder
Llaude oder Simon, wünscht Ihr, daß ich ...
Simon anferwecke? wie nanntet Ihr ihn
doch noch? ... ach ja, Simon Labanie, der vor
bald einem Jahre an einer bösen Brustfell-
entzündung gestorben ist?"
„Verzeihung, Herr Arzt," fiel ihm Latharine,
- ie Wittwe des armen Simon in's Wort. „Lr
war gewiß ein braver Mann! er machte mich
glücklich und ich werde ihn beweinen, so lange
mir Gott die Augen im Kopse erhält. Aber
erweckt ihn nicht wieder; denn seht, gegen
Ende des Monats werde ich die Trauer ab-
legen und mich — meine verwandten wollten
es so — wieder mit dem langen Pascal ver-
heirathen. Heut in acht Tage» wird das erste
und letzte Aufgebot verkündet; die Geschenke
habe ich bereits erhalten."
„Ls ist recht von Luch, daß Ihr mir das
gesagt, Latharine. Nun, wie wär's, wenn
ich Nanon Larotte auferweckte, die man zu
Lichtmeß begrub?"
„Laßt Luch das nicht einfallen, Herr Arzt,"
rief Jacques Lamöle. Nanon war meine
Fra», wir haben zehn Jahre zusammen ge-
lebt, zehn Jahre Fegefeuer, ganz Lucugnan
weiß es. Nanon mag bleiben, wo sie ist, um
meiner und ihrer Ruhe willen. Der
wahre Drache, Herr! eigensinnig
wie ein Esel, dazu faul und streit-
süchtig, und schmutzig und zerlumpt!
Dabei machte sie lange Finger und
eine Zunge, eine Viperzunge, Herr,
gegen die man nicht auskommen
konnte! Und ... ich sage noch
nicht alles!"
„Aber, meine Freunde . . ."
„Verzeihung, wenn ich Luch
wehe thue, Herr Arzt. Aber Ihr
wißt, todte Frau, neuer Hut! Und
da Nanon mir drei Bälger hinter-
lassen hat, die mir auf dem Halse
liege», so habe ich mich wieder
verheirathct. Ls ist also ganz unnütz ..
„<2s ist gut. Ich verstehe. Ls ist klar,
es wäre für Dich eine grausame Strafe, wenn
Du zwei Frauen im Hause hättest! An einer
ist's genug, ja, manchmal . . . schon zu viel!
. - . Dann werde ich also einen andern auf-
erwecken . . . denn schließlich muß ich doch
einen auferwecken, Ihr guten Leute... Zum
Beispiel, den braven Meister Pierre."
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