1898
JUGEND
Nr. 23
*
J. Berchtoldf(München).
„Meister Pierre du Mas-Vieux?" sagte
Felix Bonne-Poigne.
„Ihn selbst!"
„Mein armer Vater! . • . Gott schenke
ihm die ewige Ruhe, Herr Arzt . . . ein
heiliger Mann war's gewiß! weckt ihn
nicht auf; denn wenn er wieder in's Leben
zurückkchrt, dann würde er unsere Angelegen-
heiten in einem schönen Zustande vorstnden;
und das Herz thäte ihm weh, denn er hätte
uns so gerne im besten Einvernehmen ge-
sehen! wir haben uns in den Pachthof ge-
theilt, aber erst nach heftigen Zänkereien und
Schlägereien, nach einem langen Prozeß und
nicht ohne uns die Haare ausgerauft zu haben.
Leider find nur ein paar Stückchen Land übrig
geblieben, wir sind sechs: vier Brüder und
zwei Schwestern; alle haben wir viel Rinder
und jeder hat mit sich übergenug zu thun.
Es ist auch nicht einer in der Familie, der
Geld übrig hat."
„Ls wäre also nicht möglich . .
„Verzeihung I wenn Ihr ihn auferwecktet,
so müßten wir alle Zusammen dem armen
Alten eine Pension aussetzen; nichts ist ge-
rechter. Aber die Jahre sind so schlecht. Ihr
wißt, die Seidenwürmer sind nichts werth, die
weinstöcko sind krank, das Getreide wächst
nicht, die Gliven haben den Wurm, es regnet
nicht; es steht alles schlecht."
„Nun gut, lassen wir Peter schlafen. Aber
da ich nicht hierher gekommen, um Maul-
affen feilzuhalten, und Ihr alle wünscht, daß
ich Jemanden auferwecken soll, — na, so sagt
doch, wen soll ich auferwecken?"
„Gotho! erweckt mir meine Gotho!" rief
in diesem Augenblick eine brave Frau, die
wie eine Magdalena weinte.
„Nein, nein, Herr Arzt, weckt sie nicht
aus!" sagte ein junges Mädchen. „Ach nein,
schöne Jungfrau, wie recht hast Du gethan,
zu sterben! vor dem Tode hat sie mir alles
gesagt. Und dann haben wir ihr ein schönes
weißes Kleid angezogen und Blumen auf den
Kopf gesetzt. Man hätte sie für eine Braut
halten können. Laßt sie in geweihter Lrde
ruhen, denn der, den sie liebte, hat sich mit
einer andern vermählt!"
„Arme, arme Gotho! .. . Aber die Sache
fängt an, mich zu langweilen! ich muß, um
der Geschichte ein Ende zu machen, den Gringalet
erwecken, der von nngefähr erstickte, als er
Kabeljau aß."
„Ich will nicht, nein, ich will nicht," rief
Louiset Loqnelicot und erhob die beiden Arme
in die Luft. „Lr hatte mir seinen Weinberg
und seinen Pachthof gegen eine Leibrente ver-
kauft. Ich habe sie ihm zehn Jahre lang
und über den Werth hinaus in schönen weißen
Thalern bezahlt, ohne ihm je einen Sou vor-
zuenthaltcn. Ich müßte ihm jetzt von neuem
seine Pension bringen. Das wäre nicht ge-
recht, Herr Arzt!"
„Na, wenn Ihr meint . . . Also schön!
. . . Aber ich weiß Jemanden, der bei seinem
Tode weder Frau noch Kinder, weder Bruder
noch Schwester, sondern nur sein Andenken,
das leuchtende Beispiel seiner Tugenden und
all' sein Hab und Gut Eurem Spital hinter-
ließ; das ist Euer guter Pfarrer, der Luch so
liebte, den Ihr so heiß beweintet und der
aus Liebe für Luch — Ihr erinnert Luch
dessen wohl — eine so beschwerliche Reise in
die andere Welt machte und dort in allen
Lcken und Luden seine Lncugnaner suchte,
die er alle — ohne Ausnahme — unglück-
licherweise in der weit geöffneten Hölle fand!
wie wär's, wenn wir den auferweckten?"
„Ach nein, nein," riefen die einen von hier,
die anderen von da, — am lautesten mehrere
falsche Betschwestern — „nein, nein, Herr Arzt!"
„Umsoweniger," fügte Misä Rouffeline, die
älteste Frau der Gemeinde hinzu, „nmsoweniger,
als der arme Mann alt und so taub wie ein
Topf war; wenn ich ihm beichtete und Feige
sagte, dann verstand er Rosine. Laßt ihn in
der Gnade Gottes, denn wir haben ja jetzt
einen Pfarrer, der jung und gutmüthig ist;
er ist brav wie ein Goldstück, singt wie die
Grgcl, predigt wie ein Seraph und lenkt fein
Schifflein zu aller Zufriedenheit."
„was soll ich dagegen sagen? wenn es
so steht, müssen wir die Sache eben anders
anfassen. Ich sehe da, ganz in der Nähe, ein
kleines Holzkreuz; man möchte meinen, das
blühende Gras und die kleinen weißen Schnecken
haben die traurige schwarze Farbe verdecken
wollen; so zahlreich haben sich die Schnecken
darauf gelagert, so dicht wächst das Gras
ringsumherl Ls ist das Grab eines Säug-
lings; er war zehn Monate alt, als er starb;
die Inschrift besagt es. Ls wäre sicher Sünde,
das Kind aufzuerwecken; es ist so glücklich, todt
zu sein und eine Welt verlassen zu haben, wo
man das hört, was Ihr uns eben gesagt
habt, ineine armen Freunde! wenn Ihr
aber wünscht, daß es auferstehe, so will ich
es sogleich auferstehen lassen."
„Herr Arzt," sagte nun eine arme Alte
weinend; „dieser arme Kleine gehörte uns —
leider — und ich bin seine Großmutter.
Meine Tochter hatte ihn noch nicht entwöhnt;
— er setzte die Milchzähne an, als er — leider
Gottes — starb. Ach, hätten Sie gesehen,
wie schön er war, unser Kleiner! Gott hat
ihn uns genommen; nun denn, sein Wille
geschehe, wir haben jetzt einen andern
Säugling; Gott hat wohl gethan, was er gc-
than, was er mit der einen Hand nimmt,
gibt er mit der andern wieder! Zwei könnten
wir nicht ernähren und wir sind zu arm, nnr
eins zur Amme zu bringen."
Da sagte der Arzt:
„Genug für heute: ja, sogar zu viel! Da
Ihr nicht wollt, daß ich das Wunder voll-
bringe, so werde ich versuchen, es an einem
andern Tage anszuführen, nicht, indem.ich
einen Dahingeschiedenen auferwecke — denn
Ihr seht wohl, das macht Ihr unmöglich, —
sondern indem ich den Lebenden zn Hilfe eile,
die in Todesgefahr schweben. Lebt wohl!"
Damit verließ er den Kirchhof.
Und wer will noch bestreiten, daß unser
Arzt von diesem Tage an in Lucugnan
Wunder wirkte? Lr erweckte keine Tobten,
aber er rettete mehr als einem Kranken das
Leben. Die Lucagnaner hatten volles ver-
trauen und sagten:
„wenn er sein Versprechen auf dem Kirch-
hof nicht hielt, so ist das nicht feine Schuld;
denn wenn wir gerecht fein wollen, so müssen
wir zugeben, daß wir ihn daran verhindert
haben." —
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J. Berchtoldf(München).
„Meister Pierre du Mas-Vieux?" sagte
Felix Bonne-Poigne.
„Ihn selbst!"
„Mein armer Vater! . • . Gott schenke
ihm die ewige Ruhe, Herr Arzt . . . ein
heiliger Mann war's gewiß! weckt ihn
nicht auf; denn wenn er wieder in's Leben
zurückkchrt, dann würde er unsere Angelegen-
heiten in einem schönen Zustande vorstnden;
und das Herz thäte ihm weh, denn er hätte
uns so gerne im besten Einvernehmen ge-
sehen! wir haben uns in den Pachthof ge-
theilt, aber erst nach heftigen Zänkereien und
Schlägereien, nach einem langen Prozeß und
nicht ohne uns die Haare ausgerauft zu haben.
Leider find nur ein paar Stückchen Land übrig
geblieben, wir sind sechs: vier Brüder und
zwei Schwestern; alle haben wir viel Rinder
und jeder hat mit sich übergenug zu thun.
Es ist auch nicht einer in der Familie, der
Geld übrig hat."
„Ls wäre also nicht möglich . .
„Verzeihung I wenn Ihr ihn auferwecktet,
so müßten wir alle Zusammen dem armen
Alten eine Pension aussetzen; nichts ist ge-
rechter. Aber die Jahre sind so schlecht. Ihr
wißt, die Seidenwürmer sind nichts werth, die
weinstöcko sind krank, das Getreide wächst
nicht, die Gliven haben den Wurm, es regnet
nicht; es steht alles schlecht."
„Nun gut, lassen wir Peter schlafen. Aber
da ich nicht hierher gekommen, um Maul-
affen feilzuhalten, und Ihr alle wünscht, daß
ich Jemanden auferwecken soll, — na, so sagt
doch, wen soll ich auferwecken?"
„Gotho! erweckt mir meine Gotho!" rief
in diesem Augenblick eine brave Frau, die
wie eine Magdalena weinte.
„Nein, nein, Herr Arzt, weckt sie nicht
aus!" sagte ein junges Mädchen. „Ach nein,
schöne Jungfrau, wie recht hast Du gethan,
zu sterben! vor dem Tode hat sie mir alles
gesagt. Und dann haben wir ihr ein schönes
weißes Kleid angezogen und Blumen auf den
Kopf gesetzt. Man hätte sie für eine Braut
halten können. Laßt sie in geweihter Lrde
ruhen, denn der, den sie liebte, hat sich mit
einer andern vermählt!"
„Arme, arme Gotho! .. . Aber die Sache
fängt an, mich zu langweilen! ich muß, um
der Geschichte ein Ende zu machen, den Gringalet
erwecken, der von nngefähr erstickte, als er
Kabeljau aß."
„Ich will nicht, nein, ich will nicht," rief
Louiset Loqnelicot und erhob die beiden Arme
in die Luft. „Lr hatte mir seinen Weinberg
und seinen Pachthof gegen eine Leibrente ver-
kauft. Ich habe sie ihm zehn Jahre lang
und über den Werth hinaus in schönen weißen
Thalern bezahlt, ohne ihm je einen Sou vor-
zuenthaltcn. Ich müßte ihm jetzt von neuem
seine Pension bringen. Das wäre nicht ge-
recht, Herr Arzt!"
„Na, wenn Ihr meint . . . Also schön!
. . . Aber ich weiß Jemanden, der bei seinem
Tode weder Frau noch Kinder, weder Bruder
noch Schwester, sondern nur sein Andenken,
das leuchtende Beispiel seiner Tugenden und
all' sein Hab und Gut Eurem Spital hinter-
ließ; das ist Euer guter Pfarrer, der Luch so
liebte, den Ihr so heiß beweintet und der
aus Liebe für Luch — Ihr erinnert Luch
dessen wohl — eine so beschwerliche Reise in
die andere Welt machte und dort in allen
Lcken und Luden seine Lncugnaner suchte,
die er alle — ohne Ausnahme — unglück-
licherweise in der weit geöffneten Hölle fand!
wie wär's, wenn wir den auferweckten?"
„Ach nein, nein," riefen die einen von hier,
die anderen von da, — am lautesten mehrere
falsche Betschwestern — „nein, nein, Herr Arzt!"
„Umsoweniger," fügte Misä Rouffeline, die
älteste Frau der Gemeinde hinzu, „nmsoweniger,
als der arme Mann alt und so taub wie ein
Topf war; wenn ich ihm beichtete und Feige
sagte, dann verstand er Rosine. Laßt ihn in
der Gnade Gottes, denn wir haben ja jetzt
einen Pfarrer, der jung und gutmüthig ist;
er ist brav wie ein Goldstück, singt wie die
Grgcl, predigt wie ein Seraph und lenkt fein
Schifflein zu aller Zufriedenheit."
„was soll ich dagegen sagen? wenn es
so steht, müssen wir die Sache eben anders
anfassen. Ich sehe da, ganz in der Nähe, ein
kleines Holzkreuz; man möchte meinen, das
blühende Gras und die kleinen weißen Schnecken
haben die traurige schwarze Farbe verdecken
wollen; so zahlreich haben sich die Schnecken
darauf gelagert, so dicht wächst das Gras
ringsumherl Ls ist das Grab eines Säug-
lings; er war zehn Monate alt, als er starb;
die Inschrift besagt es. Ls wäre sicher Sünde,
das Kind aufzuerwecken; es ist so glücklich, todt
zu sein und eine Welt verlassen zu haben, wo
man das hört, was Ihr uns eben gesagt
habt, ineine armen Freunde! wenn Ihr
aber wünscht, daß es auferstehe, so will ich
es sogleich auferstehen lassen."
„Herr Arzt," sagte nun eine arme Alte
weinend; „dieser arme Kleine gehörte uns —
leider — und ich bin seine Großmutter.
Meine Tochter hatte ihn noch nicht entwöhnt;
— er setzte die Milchzähne an, als er — leider
Gottes — starb. Ach, hätten Sie gesehen,
wie schön er war, unser Kleiner! Gott hat
ihn uns genommen; nun denn, sein Wille
geschehe, wir haben jetzt einen andern
Säugling; Gott hat wohl gethan, was er gc-
than, was er mit der einen Hand nimmt,
gibt er mit der andern wieder! Zwei könnten
wir nicht ernähren und wir sind zu arm, nnr
eins zur Amme zu bringen."
Da sagte der Arzt:
„Genug für heute: ja, sogar zu viel! Da
Ihr nicht wollt, daß ich das Wunder voll-
bringe, so werde ich versuchen, es an einem
andern Tage anszuführen, nicht, indem.ich
einen Dahingeschiedenen auferwecke — denn
Ihr seht wohl, das macht Ihr unmöglich, —
sondern indem ich den Lebenden zn Hilfe eile,
die in Todesgefahr schweben. Lebt wohl!"
Damit verließ er den Kirchhof.
Und wer will noch bestreiten, daß unser
Arzt von diesem Tage an in Lucugnan
Wunder wirkte? Lr erweckte keine Tobten,
aber er rettete mehr als einem Kranken das
Leben. Die Lucagnaner hatten volles ver-
trauen und sagten:
„wenn er sein Versprechen auf dem Kirch-
hof nicht hielt, so ist das nicht feine Schuld;
denn wenn wir gerecht fein wollen, so müssen
wir zugeben, daß wir ihn daran verhindert
haben." —
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