Die Klippe
Kleine Dinge
Man muss den Andern nicht blossstellen,
nicht einmal unter vier Augen, sondern ihn
höchstens sehen lehren. So wird er dann
sich selber nackt sehen, und doch mit seiner
Scham allein sein.
Wenn die Menschen sich inniger liebten,
würden sie auch gelinder von einander hinweg-
sterben. Jene Bitterkeit im Schmerz um einen
Scheidenden kommt wahrhaftig nur von den
tausend Verletzungen, die man sich im Leben
zufügte, und die nun alle auf einaal — un-
bewusst! — wieder aufbrechen. Etwas Aehn-
liches ist wirksam bei unserm eigenen Tode:
der Mensch der zur vollen Liebe seiner selbst
gelangt ist, wird dem Tod mit einem gewissen
zärtlichen, nicht aufdringlichen Durst als dem
Vollender seines Lebens ins Auge sehn. Alle
Angst vor dem Ende entspringt aus Scham und
Schuldbewusstsein. Wie das Leben, so der
Tod, und manches gewinnt erst durch diesen
das Siegel der Schönheit: der Mannsfelder, in
voller Rüstung, stehend, nur nothwendigerweise
von zwei Soldaten gestützt, den Tod erwartend,
wird hinreissend, auf Tod und Leben hin-
reissend!
Ihr standet schon oft im Thore einer
Schmiede, gefesselt von dem zauberischen
Schauspiel; aber wer hat je kalt gesehen, was
heiss vor seinen Augen geschmiedet wurde?
Wenn die Hämmer ruhn und der Ambos schweigt,
sieht man nach der flammenden Esse. Aber
seht, was ich euch zeigen will: ln der schwarzen
und dunkeln Schmiede erscheint das glühende
Stück, das auf den Ambos kommt, viel grösser,
als es in Wahrheit ist, und gar die stiebenden
Funken, die uns so gross erscheinen, sind so
klein, dass ihr in euern Kleidern kaum das
Loch findet, das sie hineingebrannt haben, ge-
schweige das Körperchen selbst-und
so verhält es sich auch mit all den heissen
Dingen, die wir innerlich verarbeiten! Wie
flammt unsere Schmiede, wie malerisch oder
gespenstisch wallen die übergrossen Schatten
an den Wänden und der Decke hinauf, wie
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Kleine Dinge
Man muss den Andern nicht blossstellen,
nicht einmal unter vier Augen, sondern ihn
höchstens sehen lehren. So wird er dann
sich selber nackt sehen, und doch mit seiner
Scham allein sein.
Wenn die Menschen sich inniger liebten,
würden sie auch gelinder von einander hinweg-
sterben. Jene Bitterkeit im Schmerz um einen
Scheidenden kommt wahrhaftig nur von den
tausend Verletzungen, die man sich im Leben
zufügte, und die nun alle auf einaal — un-
bewusst! — wieder aufbrechen. Etwas Aehn-
liches ist wirksam bei unserm eigenen Tode:
der Mensch der zur vollen Liebe seiner selbst
gelangt ist, wird dem Tod mit einem gewissen
zärtlichen, nicht aufdringlichen Durst als dem
Vollender seines Lebens ins Auge sehn. Alle
Angst vor dem Ende entspringt aus Scham und
Schuldbewusstsein. Wie das Leben, so der
Tod, und manches gewinnt erst durch diesen
das Siegel der Schönheit: der Mannsfelder, in
voller Rüstung, stehend, nur nothwendigerweise
von zwei Soldaten gestützt, den Tod erwartend,
wird hinreissend, auf Tod und Leben hin-
reissend!
Ihr standet schon oft im Thore einer
Schmiede, gefesselt von dem zauberischen
Schauspiel; aber wer hat je kalt gesehen, was
heiss vor seinen Augen geschmiedet wurde?
Wenn die Hämmer ruhn und der Ambos schweigt,
sieht man nach der flammenden Esse. Aber
seht, was ich euch zeigen will: ln der schwarzen
und dunkeln Schmiede erscheint das glühende
Stück, das auf den Ambos kommt, viel grösser,
als es in Wahrheit ist, und gar die stiebenden
Funken, die uns so gross erscheinen, sind so
klein, dass ihr in euern Kleidern kaum das
Loch findet, das sie hineingebrannt haben, ge-
schweige das Körperchen selbst-und
so verhält es sich auch mit all den heissen
Dingen, die wir innerlich verarbeiten! Wie
flammt unsere Schmiede, wie malerisch oder
gespenstisch wallen die übergrossen Schatten
an den Wänden und der Decke hinauf, wie
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