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1898

• JUGEND •

Nr. 26

d araus gezogen werden können. Darauf kommt
jetzt alles an. Nun, um Unannehmlichkeiten zu
vermeiden, antwortet man dann: „Unsre Zu-
stände lassen noch viel zu wünschen übrig.""

„Hm, ja! Da ist z. B. bei uns der Kohl.. -
ich erfuhr das erst unlängst... Einst setzte man
mir da einen Kohlkops vor; ich glaubte er sei
aus Algier — und da höre ich plötzlich, er sei
ans Posdejewka!"

„Sehen Sie wohl! Das ist ganz richtig; in
Posdejewka gibt es auch Möhren und Rüben,
überhaupt allerlei Gemüse. Und so ist es bei
uns immer. Wir reisen nach Ems und Marienbad,
um dort Wasser zu trinken, und haben in Pos-
dejewka unser eigenes, weit besseres Wasser:
denn das Marienbader verdirbt nur den Magen.
— Aber nun sagen Sie mir gefälligst, wer inag
ivohl den Kohl in Posdejewka eingesührt haben?
Sie meinen vielleicht der Gouverneur? — ivcit
gefehlt! Ein Bäuerlein war es, mein Herr. ES
lebte da in Posdejewka ein gewisser Ssemjon
Maljawka, der nach Rostow wanderte, um dort
zu lernen, wie man die jungen Kvhlpflanzen be-
handeln mutz; als er dann wieder nach Hanse
kam, legte er einen Gemüsegarten an und Andere
iilachtcn cs ihm nach."

„Ganz richtig, Exzellenz, so war es wirklich!" —
mutzte der Adelsmarschall bcipflichtcn.

„Und so verhält es sich bei uns mit allen
Gewerben; sie sind auf geivisse Bezirke beschränkt.
Stellen Sie sich vor, datz man in der Nähe von
Posdejetvka, im Dorfe Raswalicha, vom Gemüse-
bau gar keine Ahnung hat. Dort sind allcBauern
Wollschlüger. Im Sommer ackern sie ihre Felder
und im Winter gehen sie in die Fremde und
ernähren sich durch Wollschlägerei. Und dies
Gewerbe hat gleichfalls nicht ei» Gouverneur,
sondern ein einfacher Bauer, Abramka, eingeführt,
der nach Kaljasin ging, diese Industrie dort kennen
lernte und sie heimbrachte. — Urtheilen Sie nun
selbst: Kohl, Gurken, Wollschlägerei, Stiefel, Bast-
matten, dies alles hat die Bevölkerung selbst
eingesührt. Und was meinen Sie wohl, wer
bei Ihnen in Rasterjajewka den Glockenthurm
errichten lietz? Etwa der Gouverneur? Keines-
>vegs, es tvar der Kaufmann Polykarp Ag-
gejcw Paralitschow; der Gouverneur war nur
bei der Einweihung und atz dann beim Festmahl
Fischpastete."

„Ganz richtig."

„Und lvcr war es doch, der in Pereslalv zuerst
Häringe räucherte?"

„Das war jedenfalls auch nicht dcrG ouverncur."

„Und die Lachssorellen, den Brvmbeerliqueur,
die Marmeladen von Rshew und Kolomna?
stammen die ettva vom Gouvcmeur her?"

„Aber erlauben Sie, Exzellenz! Außer den
Gemüsen und andern Nahrungsmitteln und
Delikatessen gibt es doch noch genug andere
Dinge.. ."

„Was denn zum Beispiel?"

„Nun, z. B. Steuern und Abgaben! Die
müssen doch auch erhoben und nöthigenfalls durch
Exekution beigetrieben werden."

„Aber wissen Sie denn auch, was Steuern
und Abgaben sind?"

„Abgaben und Steuern sind sozusagen Be-
weise der Zugehörigkeit ..."

„So, „Beweise" sind es also ... Und, was
meinen Sie, sind das vielleicht angenehme „Be-
weise?" Da kommt der Steuereinnehmer; Ach,
was das für ein Vergnügen ist! Brächte er
lieber ein Rezept mit, wie man die Schinken in
Tamboiv räuchert oder ivie in Mnrom die Gurken
gesalzen werden! Aber nein! Sein Beruf ist
nur Steuern zu erheben und zlvar nöthigenfalls
mit Hilfe von Birkenruthen. Sagen Sie mir
doch ferner gefälligst, wie es sich eigentlich mit
diesen „Beweisen der Zugehörigkeit" verhält,
wenn z. V. den Bauern in PvSdejewla der Kehl

mißräth? Was spiele ich, der Gouverneur, dabei
für eine Rolle? Ich sende den Polizeichess ein
Zirkular — weiter nichts; und diese Polizeichefs
erfüllen dann das ganze Gouvernement mit
Heulen und Zähneklappern — weiter nichts. Wozu,
weshalb und zu welchem Zweck ich eigentlich
diesen Zwang ausübe, weitz ich nicht und auch
die Polizeichefs wissen es nicht, weshalb sie
schimpfen und ivüthen. Vielleicht haben sich die
Staatsabgaben verkrochen? ... Entweder war
cs die Mißernte, die den Bauer ins Elend brachte,
oder der leidige Branntwein war daran schuld,
oder der Wucherer sog ihm das Mark aus den
Knochen; vielleicht ist es aber blos eine Caprice,
und er hat sich eine Sparbüchse angelegt? Sehen
Sie, was da für Möglichkeiten Vorkommen können,
1111 b das sind noch lange nicht alle! Wir aber
schinden und plagen, schreien und schimpfen, hören
aus keine Entschuldigungsgründe, sondern be-
stehen auf Herbeischassung der Abgaben und
damit basta!"

„Ja, ja, Sie haben ganz recht. Man schren,
schimpft und läßt schlictzlich manchen auch dnrch-
hanen. Und was kommt dabei heraus? Dao
wissen wir selbst nicht. Alles das ist im höchsten
Grade traurig!" bestätigte der Adelsmarschall.

Beide versanken nun in Nachsinnen.

Der Adelsmarschall raffte sich zuerst ans: er
war offenbar noch nicht ganz überzeugt und hatte
sich jetzt aus eine weitere Frage besonnen. „Aber
die Volksmoral, die Aufklärung? Die Wissen-
schaften und Künste?..." Der Gouverneur schien
seine Gedanken zu errathen, denn er blickte ihn
so strenge an, daß Jener kaum hervorzustammeln
wagte:

„Aber die Alimentation des Volkes?"

„Und Sie schämen sich nicht?" war des
Gouverneurs Gegenfrage, ihn scharf sixirend.

Der Adelsmarschall erröthete. Es kam ihm
in den Sinn, daß er erst unlängst, als Vor-
sitzender der Landschaftsbchörde, die Gemeinden
revidirt hatte, und ... da mußte er sich schämen.

Endlich schien er sich aber doch orientirt zu
haben und rief nun aus: „Erlauben Sie, jetzt
weitz ich, um was cs sich handelt, es ist Ihre
Mitwirkung zur Concentrirung der Gesellschafts-
klassen."

„Was für Gesellschaftsklassen?"

„Natürlich die hiesigen!"

„Hm, glauben Sie wirklich, datz ich die hiesigen
Gesellschaftskreise vereinige?"

„Sotvohl Sie, Excellenz, lute auch Ihre Frau
Gemahlin, Lukerja Jwanowna!"

„Lukerja Jwanowna — meinetwegen! Mich
aber lassen Sie aus. Aber nun frage ich Sie:
ist denn diese Concentrierung der Gesellschafts-
kreise, besonders der hiesigen, nothwendig; wem
nützt sie denn eigentlich?"

Beide Männer verstummten. Wäre nicht
zufällig der Kassier aus der Gouvernementsvcr-
waltung hereingekommen, so hätte die Situation
recht unbehaglich werden können.

Es war grade der Aste des Monats. Be-
kanntlich zahlte man früher an diesem Tage die
Gage aus; die Kassiere von allen Behörden be-
suchten ihre Vorgesetzten und brachten, ihnen das
Geld und die Quittungsbücher.

Der Gouverneur nahm sein Packet in Em-
pfang, zählte ohne sich zu beeilen das Geld nach,
legte es beiseite und quittirte.

„Aber was meinen Sie nun d a z u?" fragte der
Adelsmarschall scherzend und wies auf das Geld-
päckchen hin: „Wie erklären Sie mir dies da?"

„Hm, ja . . . das heißt, Sie meinen dies
da?" fragte der Gouverneur nachdenklich.

„Ja, dies da; eben dieses!"

„Hm, dieses? Das ist sozusagen ein
Ehrensold."

lDcutsch von Wilhelm Heuckel.)

lluäolk Wilke (Cannes).

Iwan Iwanowirsch in Paris
Register
Rudolf Wilke: Iwan Iwanowitsch in Paris
 
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