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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (16. Juli 1898)
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1898

Nr. 29

Kitzel (München)

. JUGEND •

Als er eines Abends wieder in dieser wohlig«
traumhaften Stimmung durch die Straßen ging,
bemerkte er die Gestalt eines jungen Mädchens,
das mit einer Hutschachtel an ihm vorüberhuschte.

Er fühlte auch ihren Blick einen Moment in
dem seinen ruhen und hatte dabei eine seltsame
bänglich-süße Empfindung. Mechanisch und noch
immer träumend ging er weiter, aber auf ein-
mal kehrte er um und ging langsam, dann im-
mer rascher dein Mädchen nach, von diesem
Augenblick begriff und überlegte er nicht mehr,
was er that, sondern eine ganz fremde Macht
schien über ihn Herrschaft gewonnen zu haben
Er sprach das Mädchen an, sie antwortete
nicht unfreundlich, und er sah, daß ihre Augen
nicht nur beim voriibergehen schön waren.

Mährend er neben dein Mädchen herging,
plauderte er sehr munter und in einer Art,
die er bis dahin an sich nicht kannte. Ls fiele»
ihm Dinge ein, an die er sonst nie gedacht
hatte; er machte auch unabsichtlich einige gute
Mitze. Ais das Mädchen ihn ersuchte, nun
nicht weiter mitzugehen, bat er sie um ein
Miederseheu. Sie sagte: „Gut, ich werde morgen
ui» dieselbe Stunde durch dieselbe Straße gehen.

Sie lächelte und verschwand. Er grüßte höf-
lich und blieb stehen. Er war sehr nachdenklich,
und seine gute Vase begann zu schnuppern. Er
fühlte ein seines Aroma in der Luft, und auf
einmal wußte er, woher er diesen beunruhigen-
den Dust schon kannte. Genau so hatten die Bil-
der und Briefe in der Truhe zu Hause geduftet.

Er wurde ganz traurig. Ihm war, als
stünde er an einem Wendepunkte seines Lebens.
Bisher war er auf einer so bequemen Straße
gezogen, jetzt lag plötzlich ein unbekannter
Raum vor ihm. Sein Blick verlor sich in die
Weite, und hinter einem seinen Gazeschleier
genau wie jener, den er damals in dem ein-
zigen Ballet seines Lebens gesehen hatte, sah
er sich selbst, aber wie verändert! Statt seiner
gesunden Farbe hatte er ein schmerzliches Blaß
auf den Wangen, in seinen Augen schwammen
Thränen und — hier schrie er fast aus und
wandte den Blick ab; er wußte bestimmt: hätte
er noch länger hingeschaut, so hätte er auch einen
geladenen Revolver in der Hand gehalten. Da
kam es über ihn wie eine Erleuchtung. Das
Schicksal! Dieses Mädchen mit dem schönen
Haar und den glänzenden Augen war sein Schick-
sal. Ein großer Schreck kam über ihn. Das
ganze Ich des Herrn Theobald war revoltirt.

Er wollte entfliehen, und er konnte nicht, denn
er fühlte deutlich, wie eine fremde Macht ihn mit
unsichtbarer Hand gegen jenes Mädchen stieß.

In dieser voth hörte er auf eiumal eine
Stimme, seine eigene Stimme, die Stimme des
Herrn Theobald aus seiner guten, gemüthlicheu
Zeit, die ihm schon um Jahre zurückzuliegeu
schien: „Meinte sie nicht, Du könntest sie morgen
zu dieser Stunde und in dieser Straße Wieder-
sehen? Du hast aber bisher weder auf die Uhr-
gesehen, noch eine Straßentasel gelesen."

Wie ein gehetztes Raninchen in ein rettendes
Loch, sprang Herr Theobald in einen vorbei-
fahrenden Einspänner. „Rutscher, so schnell Sie
können in die ... gaffe!" Er nannte ihm den
Namen einer Gasse in der entferntesten Vorstadt.
Dann schloß er die Fenstervorhänge und knöpste
gleichzeitig seinen Rock über der Uhrtasche fest zu.

So fuhr Herr Theobald seinem Schicksal

davon.

Lmil Ncchcrt.

48;
Register
Josef Rudolf Witzel: Eva
 
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