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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (16. Juli 1898)
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1898

JUGEND

Nr. 29

Ahasver

Rud. Jettmar (Wien).

springt -ie Pforte cm}, und dann drängt ihr Euch

heraus, Kinder!!-Kind!! — das ist daS

Wort, das Einzige aus dieser Welt, das erlösende
sür die Todesstunde! Schauer von Liede durch-
slaiumten ihr Herz; ausgcrissen wie ein Saatscld,
durch das zum ersten Mal die eisernen Pflüge
gingen, war ihr Inneres.

Gleich einem Fähnchen so recht aus Waisen-
hausstoss, durstig und dünn und zerschlissen, stieg
das Morgcnroth über der nüchternen Waisen-
Kaserne aus. „Geht, laust, erwärmt Euch!" schrie
der Direktor in sein scheues Häuslein hinein. Sie
gingen, gleich schwarzen Flecken drückten sie sich
an der rothbeschienenen Hoswaud entlang. Selt-
sames Morgenroth! In dein kalten, viereckigen
Hose, in dem selbst der Brunnen erstarrt war,
glitt es aus und zertheilte sich, und lies in die
Felder hinein, deren Schollen noch seste Winter-
llumpe» waren. ES war einen Moment, als
brenne irgendwo ein Feuer aus, und gäbe eine»
Widerschein, in den man nur die Hände zu
stecken brauche, um warm zu werden. — Dann
wurde der Margen nüchtern und saht — ein
Wintermorgen.

Wie die Oelgützen, stumm und lebensrathlos,
standen die Kinder umher. Nur an ein Ding
dachten sie in der Welt — an's Frühstück. Aus
der Kellerküche kam der warme Dunst des Cichorien ■
Wassers, griss durch das Drahtgitter des Fensters,
»nd zog sie allesainmt an den Kleiderzipseln zu
diesem Fenster hin-

Frau Reginald stand droben im Estscml, im
Pelzkragen und Toquehut, das blasse, etwas ver-
schwommene Gesicht leicht gcröchet. Sie blickte
über den verscheuerten Tisch hin, aus dein die
sünsundzwanzig Blechtassen standen, und die Teller
mit trockenem Brod. Ihr Auge slog nur >vie ein
Wölkchen über alles hin, und doch sah sie, die
einst nichts gesehen hatte, heut alles! —

„Wählen Sie bitte eigenmächtig, gnädige Frau.
Da kommen die Mädchen heraus", sagte der
Direktor. Er össucte die Thür und die schwarzen
Fleckeit drängten herein, bildeten eine Masse um
den langen, verscheuerten Tisch.

„Die Erste, Beste", dachte Frau Reginald, „ich
will nicht parteiisch sein, die lvelche mir grade

am nächsten steht, nehme ich." Aber als es dnz>c
kam, war sie doch parteiisch. Sie wählte die

rinn, tuen; iic uuuj .

Blässeste, die Kleinste und die Aermlichstc.
„Willst Du bei mir bleiben, Kind?"

Sie fragte es brausten ans dem Flur. Ihr Blicl,
ihre Fragen waren säst so scheu wie das Kind.

ES sah zur Seite, und dann auf die breiten,
klumpigen Schuhe. Was sollte es sagen? Es
' ' ' - '- Es Hustete

war gewohnt, so nichts zu sagen. ..

leicht, als müsse es sich entschuldigen, und schwieg.

Sic gingen die meiste Allee entlang.

„ES ist nicht so leicht lvie ich glaubte", dachte
Frau Reginald. „Ein Hund ist rascher, er springt
tlnd wedelt und dankt."

Nun sahen sie das Haus. „Dort wohne ich",
sagte Frau Reginald. „Dort?" flüsterte das Kind.

Es beugte den Kopf ein wenig vor, und un-
gläubig irrte der Blick dann an der Daine herauf,
au dem Kragen aus lveichem Pelz, dem welligen,
hochblonden Haar, dem Perlenhut.

Frau Reginald blieb stehen. Der warme,
rasche Kinderpuls der kleinen Hand schlug gegen
ihren Puls.

Ein süster Schreck durchzuckte sie. Wieder war
eS einen Augenblick wie Hpazinthengeruch nur sie
her, lieblich und schwer.

„Komnr", sagte sie, rmd beugte sich hinab, „gib
mir zuerst einen Kust." Ihre einsamen Lippen
suchten den Kindermund; und während sie küsste,
tönte es brausend und herrlich in ihr Ohr, wie
von Himmclsposaunen, wie von Engelsstimmen,
ans einer fernen, nicht mehr finsteren, mitleidigen
Höh:

„Wenn Du stirbst, wirst Du nicht allein sein."

6

vj—

Missus-Mropfen
Den Walzrlzeitsmonopolistcn

Was wollt ihr doch auf unsrem Wandelstern,

Dle ihr erschaut „des Lebens Achs' und Kern?"

Auf diesem Iweiges-Iweig vom ew'gen wachsen?

— Planetenwahrheit zählt Millionen Achsen!

Bekenntnis;

vor hundert Göttern bin ich schon gekniet.

- Doch war mein Knie'n kein mlßgcrathnes Ducken,
vor dessen Thron die Einfalt mich beschied,

Ich könnt' ihm ehrlich ln dle Augen gucken!

Und wenn ich aufstand unter der Beter Lhor:
Dann wuchs er leise selber mit empor!

Linern „Forscher"

zürwahr ein herrlicher Forschergeist,
wer die Wahrheit so leicht uns gemacht!

Du hast die Natur erkannt, das heißt:

Du hast sie zum Deckel verstacht!

Und wenn Du mit Strichen den Himmel beziehst,
Wie scheint Dir der Himmel so klein! —

Und wenn Du Dein Nch auf dem Globus siehst,
So meinst Du, die Erde sei Dein!

Subjektive Auslegung
Der gleichen Kraft entspringt das Grob' und Zeine.
— Und seit sie das kapirt,

Wie freu'n sie sich, wenn wieder aufs Gemeine

Sie Edles reduzirt!

E nihilo nihil fit

Aus nichts wird nichts — ein alt und wahres

Wörtchen.

Das Edelste jedoch, der Seele Blüh'n,

Das glaubt ihr, schlüpfe ohne Trieb und Müh'n
vom satten Magen durch das Herzenspförtchcn?

Allgemeine Menschenliebe

Alle Menschen lieben? — nein.

Einem helfen wird klüger sein!

Jenseits

Den läßt das Jenseits ungerührt,

Wer in sich selber ein Jenseits spürt.

Fritz Lcnnar.

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Register
Fritz Lennar: Ilissus-Tropfen
Rudolf Jettmar: Ahasver
 
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