Nr. 50
JUGEND
1898
Iietzte /Schatten Felix Hollenberg (Stuttgart).
Zpätsommer
Wenn das Gras der grünen Wiesen
Zeitig ist zur großen JRahd,
Wenn der Sommer seine Sense
Singen läßt durch reise Saat:
Dann soll Deine Seele Sonne,
Kraft und Frucht und Ernte sein,
Schneide ruhig Deine Aehren,
Führe Deine Garben ein.
Dtto Julius Bierbaum.
jMadonna
pen Säugling ihrer Schwester hielt mein Mächen,
)\ls wären ihre Mutterfreuden echt,
Jn ihren zärtlichen, besorgten firmen.
Jhr grosses fluge war so voll der Hebe,
Qnd ihres Herzens Schlag so mütterlich,
pie Neigung ihres Hauptes so vertraut,
pass des betrognen Säuglings Mnd sich spitzte,
Qnd dass sein plick, wie aus der Mutter prust,
f\uf meines Mädchens reinem pusen ruhte,
fMs wär's der Hügel seines süssen prünnleins.
Sein Händchen griff darnach aus seinem V\issen>
Sein Zünglein schlürfte.
Qnd ich stand dabei,
Gerührt auf mein verwirrtes Mädchen blickend,
Qnd fromm und andachtsvoll und wundergläubig
Qnd wie die Könige in pethlehem ....
HUGO SALUS.
Das kleine Ären; aus Marzem Ztein
von Joseph van Sluisters
ist dies keine abenteuerliche Erfindung,
ersonnen, um ungeberdige kleine Rinder
damit zu schrecken und zu beschwichtigen.
Ich glaube, es gibt in der ganzen Niederung
der XJffel und selbst jenseits der Deiche des Rheins
und der Waal keinen Pächter oder Torfstecher,
der das kleine Rreuz mit der räthselhaften In-
schrift nicht gesehen hätte. Und wer könnte von
sich sagen: „Ich bin es, der dieses Todtenkreuz
am Fuß der verdorrten Weide aufgerichtet hat?"
Niemand kann das sagen. Denn hier die
Thatsachen, die aller Welt bekannt sind.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß diese
Dinge sich zugetragen haben.
In einer trüben Lhristnacht begab sich eine
große Anzahl von Bewohnern eines Dorfes
Namens tholdam, das sich gegen Vsten längs
des dritten Deiches der pffel hinstreckt, nach
der nächsten Stadt, um der Weinachtsmette
anzuwohnen, von der es hieß, sie sei gar herr-
lich anzusehen, um der piächtigen Ansschmück-
nng der Rirche willen, und weil die reiche
Welt von Arnheim, der Hauptstadt der Pro-
vinz Geldern, dort znsammenströinte.
Die Zahl der Neugierigen mußte dies Jahr
»och weit größer sein als sonst, denn der Pastor
Rool wollle der großen Grgel, die mit ihren
tausend tönenden Stimmen die herrlichen Psal-
men und kspninen zum Preise des Neuge-
borenen begleitet, noch vierzig treffliche Geiger
hinzufügen, die eigens aus Deutschland her-
übergekommen waren.
Als es auf dem Bahnhof von kholdam
zehn Uhr geschlagen, war der überhitzte Warte-
saal, mit seinen beiden Besen, die ihre Arme
bebend in der leeren Wölbung der Decke kreuz-
ten, schon von Menschen übersüllt. Das dumpfe
Brausen der Gespräche, das ab und zu von
lauten Rufen übertönt wurde, drang durch
die Thllren gleich dein Surren vieler Mühlen.
Nie noch waren jene gelassenen schlichten Leute
so aufgeregt gewesen. Mit einem Schlage wurde
es still.
Ein Fremder war eingetreten. Die Auf-
merksamkeit Aller richtete sich auf ihn. Es
war ein alter Mann von stämmigem Wuchs
und aufrechter Haltung trotz seiner Jahre.
Seine weißen Haare vermengten sich mit dem
Schnee seines Bartes. Seine kleinen, tiefliegen-
den Augen schienen in's Leere zu blicken.
Er war gekleidet, wie sonst keiner geht,
doch bestand — in Folge seines ledernen Riltels
und seiner hohen Stiefel — eine gewisse Aehn-
lichkeit mit jenen Zigeunern, die manchmal
bettelnd auf den Deichen austauchen und dann
wieder weiterziehen, niemand weiß wohin.
Doch unterschied er sich von ihnen durch einen
weiten, schmutzigen, fettigen Mantel von weißer
wolle, in den er sich wickelte, indes; er die
Sohlen gegen einen der Besen schlug. Ab-
stoßend an ihm war nur eins: seine Nase!
— Der alte Mann hatte eine gelbe, leuchtende
Nase, die wahrlich dem Schnabel einer Eule
glich. Er verbarg sie auch die meiste Zeit in
der Höhlung seiner knöchernen Hand, und viel-
leicht war es deren Rälte, die ihn zum Nießen
brachte, denn er war erstarrt.
. L?2
JUGEND
1898
Iietzte /Schatten Felix Hollenberg (Stuttgart).
Zpätsommer
Wenn das Gras der grünen Wiesen
Zeitig ist zur großen JRahd,
Wenn der Sommer seine Sense
Singen läßt durch reise Saat:
Dann soll Deine Seele Sonne,
Kraft und Frucht und Ernte sein,
Schneide ruhig Deine Aehren,
Führe Deine Garben ein.
Dtto Julius Bierbaum.
jMadonna
pen Säugling ihrer Schwester hielt mein Mächen,
)\ls wären ihre Mutterfreuden echt,
Jn ihren zärtlichen, besorgten firmen.
Jhr grosses fluge war so voll der Hebe,
Qnd ihres Herzens Schlag so mütterlich,
pie Neigung ihres Hauptes so vertraut,
pass des betrognen Säuglings Mnd sich spitzte,
Qnd dass sein plick, wie aus der Mutter prust,
f\uf meines Mädchens reinem pusen ruhte,
fMs wär's der Hügel seines süssen prünnleins.
Sein Händchen griff darnach aus seinem V\issen>
Sein Zünglein schlürfte.
Qnd ich stand dabei,
Gerührt auf mein verwirrtes Mädchen blickend,
Qnd fromm und andachtsvoll und wundergläubig
Qnd wie die Könige in pethlehem ....
HUGO SALUS.
Das kleine Ären; aus Marzem Ztein
von Joseph van Sluisters
ist dies keine abenteuerliche Erfindung,
ersonnen, um ungeberdige kleine Rinder
damit zu schrecken und zu beschwichtigen.
Ich glaube, es gibt in der ganzen Niederung
der XJffel und selbst jenseits der Deiche des Rheins
und der Waal keinen Pächter oder Torfstecher,
der das kleine Rreuz mit der räthselhaften In-
schrift nicht gesehen hätte. Und wer könnte von
sich sagen: „Ich bin es, der dieses Todtenkreuz
am Fuß der verdorrten Weide aufgerichtet hat?"
Niemand kann das sagen. Denn hier die
Thatsachen, die aller Welt bekannt sind.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß diese
Dinge sich zugetragen haben.
In einer trüben Lhristnacht begab sich eine
große Anzahl von Bewohnern eines Dorfes
Namens tholdam, das sich gegen Vsten längs
des dritten Deiches der pffel hinstreckt, nach
der nächsten Stadt, um der Weinachtsmette
anzuwohnen, von der es hieß, sie sei gar herr-
lich anzusehen, um der piächtigen Ansschmück-
nng der Rirche willen, und weil die reiche
Welt von Arnheim, der Hauptstadt der Pro-
vinz Geldern, dort znsammenströinte.
Die Zahl der Neugierigen mußte dies Jahr
»och weit größer sein als sonst, denn der Pastor
Rool wollle der großen Grgel, die mit ihren
tausend tönenden Stimmen die herrlichen Psal-
men und kspninen zum Preise des Neuge-
borenen begleitet, noch vierzig treffliche Geiger
hinzufügen, die eigens aus Deutschland her-
übergekommen waren.
Als es auf dem Bahnhof von kholdam
zehn Uhr geschlagen, war der überhitzte Warte-
saal, mit seinen beiden Besen, die ihre Arme
bebend in der leeren Wölbung der Decke kreuz-
ten, schon von Menschen übersüllt. Das dumpfe
Brausen der Gespräche, das ab und zu von
lauten Rufen übertönt wurde, drang durch
die Thllren gleich dein Surren vieler Mühlen.
Nie noch waren jene gelassenen schlichten Leute
so aufgeregt gewesen. Mit einem Schlage wurde
es still.
Ein Fremder war eingetreten. Die Auf-
merksamkeit Aller richtete sich auf ihn. Es
war ein alter Mann von stämmigem Wuchs
und aufrechter Haltung trotz seiner Jahre.
Seine weißen Haare vermengten sich mit dem
Schnee seines Bartes. Seine kleinen, tiefliegen-
den Augen schienen in's Leere zu blicken.
Er war gekleidet, wie sonst keiner geht,
doch bestand — in Folge seines ledernen Riltels
und seiner hohen Stiefel — eine gewisse Aehn-
lichkeit mit jenen Zigeunern, die manchmal
bettelnd auf den Deichen austauchen und dann
wieder weiterziehen, niemand weiß wohin.
Doch unterschied er sich von ihnen durch einen
weiten, schmutzigen, fettigen Mantel von weißer
wolle, in den er sich wickelte, indes; er die
Sohlen gegen einen der Besen schlug. Ab-
stoßend an ihm war nur eins: seine Nase!
— Der alte Mann hatte eine gelbe, leuchtende
Nase, die wahrlich dem Schnabel einer Eule
glich. Er verbarg sie auch die meiste Zeit in
der Höhlung seiner knöchernen Hand, und viel-
leicht war es deren Rälte, die ihn zum Nießen
brachte, denn er war erstarrt.
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